US-Außenministerin Hillary Clinton reiste heute zum Staatsbesuch nach Kairo und traf sich mit Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi. Der deutsche Außenminister Guido Westwelle hatte Montag als erster westlicher Spitzenpolitiker das Land am Nil besucht und Mursi Rückendeckung im Machtkampf mit dem Obersten Militärrrat (SCAF) gegeben. EU und USA sind an einer zügigen politischen Stabilisierung Ägyptens interessiert, nach Jahren der vom Westen vorangetriebenen Isolierung der moderaten neoliberal ausgerichteten Islamisten vollziehen Europa und die USA einen Paradigmenwechsel. Seit Ausbruch des Arabischen Frühlings sind die Islamisten aus Ägyptens Politik nicht mehr wegzudenken und die Nato-Staaten versuchen mit der aktiven Einbindung der Muslimbrüder ihren Einfluss zu wahren. Koptische Jugendgruppen riefen zum Protest gegen den Besuch Clintons und die Rehablitierung der Islamisten auf. Am Nachmittag versammelten sich rund 500 Demonstranten vor der US-Botschaft im Kairoer Stadtviertel Garden City und zogen an die Nilpromenade, bis zum Abend wuchs die Menge auf mehrere Tausend an.
Die ägyptische Revolution 2011 und der Sturz des langjährigen Machthabers Hosni Mubarak konsolidierte zwar die Herrschaft der mächtigen Militärs in Ägypten, seit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, bei denen der Regimekandidat und Militärnahe Ahmed Shafiq dem ehemaligen Mitglied der Muslimbrüder Mursi unterlag, läuft jedoch alles auf eine Machtteilung zwischen den gemäßigten Islamisten und der Armee hinaus. Die säkulare, liberale und linke Opposition wird im politischen Alltagsgeschäft mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Der symbolträchtige Tahrir Square im Herzen Kairos, an dem die Revolution ihren Anfang nahm, wird zudem zunehmend von den Konservativen vereinnahmt. Dennoch, Zivilgesellschaft und Opposition in Ägypten sind lebendiger denn je. Am Abend demonstrierten tausende Christen und Muslime gemeinsam gegen den amtierenden Präsidenten und den Besuch der US-Außenministerin in Kairo.
Teile der christlichen koptischen Minderheit, die zwischen 10 und 15 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht, blicken angesichts der Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sorgenvoll in die Zukunft. Bei den Wahlen zum Parlament hatten Muslimbrüder und Radikalsalafisten das Gros der Sitze erobert, die demokratischen Kräfte und säkulare linke Strömungen hatten das Nachsehen. Trotz Mursis Ankündigungen die Rechte der christlichen Minderheit zu respektieren, sie aktiv in das politische Geschehen einzubinden und Gerüchten, nach denen der Präsident plant einen koptischen Vizepräsidenten zu ernennen, bleiben Kopten und Demokraten am Nil skeptisch. Bislang habe Mursi nur geredet, passiert sei bisher nichts, sagt ein muslimischer Demonstrant am Abend vor dem Four Seasons Hotel in Garden City.
Die koptische Jugendorganisation Maspero Youth Union rief vor wenigen Tagen zum Protest gegen den Staatsbesuch Clintons auf. Die Rückendeckung der USA für die Muslimbrüder aus realpolitischen und wirtschaftlichen Gründen bedeutet für sie ebenso wie für Liberale und Linke einen Verrat an der Revolution und wird von großen Teilen der ägyptischen Bevölkerung strikt abgelehnt. Mit Parolen wie „Support Liberty, not Theocracy“, „Obama, You Killed the Arab Spring“ oder „Obama, Did You Tell your People you are Supporting Islamic Fanatics?“ versammelten sich zunächst rund 500 Demonstranten vor der US-Botschaft in Garden City und legten am frühen Abend die zentrale Hauptverkehrsachse Korniche El-Nil lahm.
Bis zum frühen Abend schwoll der Protestzug vor dem an der Korniche El-Nil gelegenen Luxushotel Four Seasons Cairo auf mehrere Tausend Demonstranten an. Das staatliche Sicherheitsaufgebot war zwar groß, die Stimmung jedoch friedlich. Am frühen Abend zog die Armee Teile ihrer Einheiten ab und die ausgelassene Menge besetzte die Böschung vor dem Hotel. Die ägyptische Revolution hat zwar keinen Systemsturz herbeigeführt und eine Machtteilung von Muslimbrüdern und Militärs ermöglicht, im Übrigen beides wirtschaftspolitisch äußerst neoliberal ausgerichtete Gruppen, dennoch ist die ägyptische Zivlgesellschaft lebendiger denn je und artikuliert aktiv ihre Meinung. Trotz der Gefahr einer Konsolidierung der Konterrevolution am Nil durch den SCAF und die Muslimbrüder bleibt eine zutiefst politisierte und erwachte Gesellschaft zurück, die auch der SCAF nicht ignorieren kann.
© Sofian Philip Naceur 2012