Die Entkolonialisierung Nordafrikas war eine teils von Pragmatismus geleitete Entwicklung. In Algerien, der wichtigsten kolonialen Besitzung Frankreichs, lieferten sich die algerische Befreiungsbewegung Front de Libération National (FLN) und die französische Staatsmacht acht Jahre lang einen der blutigsten Kriege dieser Ära, bis das nordafrikanische Land am 5. Juli 1962 offiziell seine Unabhängigkeit erlangte. Bis heute belastet der Krieg die Beziehungen zwischen Paris und Algier, beide Staaten machen auch 50. Jahre nach Ende des Unabhängigkeitskrieges mit der Abgrenzung gegenüber dem früheren militärischen Gegner Stimmung und instrumentalisieren den Krieg (den Artikel findet ihr auch bei Zenith, eine Kurzfassung bei der Jungen Welt).
Während der FLN und die ihm nahe stehenden Militärs in Algerien bis heute einen wesentlichen Teil ihrer Legitimität aus dem antikolonialen Kampf gegen Frankreich beziehen und die Erinnerungen an die glorreichen 1950er Jahre allein aus Selbsterhaltungstrieben mit viel Getöse aufrechterhalten, hat Frankreich noch heute mit dem Verlust seiner bedeutsamsten Kolonie und dem innenpolitischen Erbe zu kämpfen. Während Tunesien und Marokko als Protektorate einen anderen Status im politischen Paris inne hatten und aus pragmatischen und realpolitischen Gründen relativ friedlich in die Unabhängigkeit entlassen wurden, galt Algerien als Siedlungskolonie als elementarer Teil Frankreichs. Die Unabhängigkeit des Landes unterminierte das französische Selbstverständnis als Grande Nation, die Brutalität, mit der die französische Armee auf den bewaffneten Aufstand reagierte, war die logische Konsequenz.
Am 1. November 1954 begann der organisierte algerische Aufstand des FLN gegen die französischen Siedler mit koordinierten Bombenanschlägen im ganzen Land. Erst acht Jahre später sollte das Land seine Unabhängigkeit erlangen. Die 132 jährige Besatzung hatte ein Zweiklassensystem etabliert. Der Status als Siedlungskolonie sorgte für eine konsequente politische, soziale und wirtschaftliche Marginalisierung der autochthonen Bevölkerung und der Vereinnahmung sämtlicher ökonomischer und politischer Ressourcen durch die französischen Siedler. Rasch nach der militärischen Eroberung des Landes durch die französischen Streitkräfte begann die systematische Enteignung fruchtbaren Bodens durch die Colons und es formierte sich Großgrundbesitz im klassischen Sinne.
Kurz vor der algerischen Unabhängigkeit betrug die Anzahl der in französisch-Algerien lebenden Pied Noir, so der Name der frankophonen Siedler, etwa eine Million. Trotz dieser großen Anzahl betrug ihr Bevölkerungsanteil nie mehr als zehn Prozent. Dennoch vereinnahmten sie das Gros an landwirtschaftlichem Besitz, lukrativen Posten im Staats- und Verwaltungsapparat und der industriellen Infrastruktur. Eigens für die einheimische Bevölkerung wurde eine Gesetzesgrundlage geschaffen, das Statut muselman. Erste Versuche der algerischen Bevölkerung sich politisch zu organisieren wurden vom französischen Staat behindert oder mit bewaffneten Mitteln unterbunden.
Die Parti du Peuple Algérienne von Messali Hadj legte bereits in den 1930er Jahren den Grundstein für den späteren Erfolg der FLN, konnte sich jedoch vor dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen. Neben den Gruppierungen, die wie Hadj einen algerischen Nationalismus propagierten und für die Loslösung von Frankreich plädierten, scharten sich um den Apotheker Ferhat Abbas Kräfte, die für eine Gleichberechtigung von Franzosen und Arabern in französisch-Algerien eintraten. Der in Algerien geborene Literaturnobelpreisträger Albert Camus zählte zu den Intellektuellen, die eine algerische Unabhängigkeit nicht akzeptieren wollten und für die Assimilation der algerischen Bevölkerung eintrat – wenn auch er die gewaltsame Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Autochthonen strikt ablehnte.
Nachdem im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Algerier in der französischen Armee gegen Nazi-Deutschland kämpften und am 8. Mai 1945 Siegesfeierlichkeiten umschlugen in nationalistische Demonstrationen verlor die französische Armee die Beherrschung. Bis zu 20.000 Demonstranten vor allem in Setif und Guelma starben. Nach diesem Ereignis war eine politische Lösung undenkbar. Der FLN formierte sich erst kurz vor Ausbruch des Krieges im Herbst 1954, schaffte es jedoch schnell den antikolonialen Kampf gegen die französische Staatsmacht zu monopolisieren.
Strategisch verlagerte der FLN rasch den Krieg in die Städte bis Paris 1957 die Fallschirmjäger, die bereits im Indochinakrieg für ihr brutales Vorgehen bekannt waren, nach Algier verlegte. Mit der systematischen Anwendung der Folter konnte das französische Militär in der Schlacht von Algier noch 1957 den Widerstand der FLN in der Hauptstadt brechen. Gillo Pontecorvo verfilmte diese Phase des Krieges später im Spielfilm „La Bataille d‘Alger“. Der Film legt insbesondere Zeugnis ab über die Brutalität der französischen Armee im Häuserkampf 1957, ignoriert aber keineswegs die Anschläge des FLN auf französische Zivilisten. Zudem hat der Film nichts an Aktualität eingebüßt, die Thematisierung staatlich organisierter Folter zur Erreichung politischer Ziele ist angesichts der Kriege in Afghanistan und Irak sowie der von den USA praktizierten Weitergabe politischer Gefangener an Nahoststaaten brandaktuell.
Am Ende war der Erfolg der FLN gewiss kein militärischer. Die Organisation war in Algerien selbst operativ kaum mehr einsatzfähig, doch in Frankreich war die öffentliche Stimmung gekippt. Die Turbulenzen in der französischen Innenpolitik und der Militärputsch der radikalisierten den Siedlern nahe stehenden Algerien-Generäle am 13. Mai 1958 brachte die IV. Republik zu Fall und schwemmte Charles de Gaulle ins höchste Staatsamt. Als dieser 1960 erstmals vom Ende der Algérie française sprach formierte sie mit der Organisation de l’armée secréte (OAS) ein neofaschistische Terrororganisation, die neben Anschlägen auf FLN-Funktionäre und Zivilisten auch Attentate auf de Gaulle selbst durchführte. Den Waffenstillstand nach dem Evian-Abkommen im Frühjahr 1962 und die Unabhängigkeit Algeriens kurz darauf konnten sie nicht verhindern.
Der Exodus der Algier-Franzosen im selben Jahr war radikal, kaum ein Pied Noir verblieb in der alten Heimat, auch weil sich vor allem im Westen des Landes gewalttätige Ausschreitungen der algerischen Bevölkerung gegen die alten Unterdrücker massiv ausweiteten. Das Gros der ehemaligen Siedler ließ sich im französischen Süden nieder und begründet dort bis heute den großen Einfluss des rechtsextremen Front National (FN). Deren langjähriger Vorsitzender Jean-Marie Le Pen war in Algerien stationiert, gab Anfang der 1960er Jahre noch mit breiter Brust zu er habe im Algerienkrieg eigenhändig gefoltert und macht nicht umsonst seither Stimmung gegen die arabische Bevölkerung Frankreichs. Insbesondere die Folterdebatte um Le Pen und seine Verbrechen im Krieg schaffte es seit den 90ern immer wieder auf die Titelseiten, den Wahlerfolgen des FN hat dies jedoch wenig geschadet!
Die Folgen des Krieges in Frankreich sind immer noch spürbar. Nach wie vor spricht kaum ein Staatsfunktionär vom Algerienkrieg, die offiziellen Termini lauten vielmehr „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder einfach „Ereignisse.“ In französischen Schulbüchern wird per Gesetzt seit der zweiten Amtsperiode von Jacques Chirac als Staatspräsident die positive Rolle Frankreichs und seiner Streitkräfte in den Überseegebieten hervorgehoben, eine kritische Aufarbeitung der historischen Fehltritte Frankreichs sieht anders aus. Auch hat sich das offizielle Paris nie für den Besatzung oder die Brutalität des Krieges entschuldigt. Diese Forderung wird in Algerien regelmäßig laut, die Stoßrichtung derartiger Initiativen aus Algerien ist jedoch ebenso zweifelhaft wie deren Ablehnung aus Paris.
Die algerische Unabhängigkeit hat der Bevölkerung bisher nicht die erhoffte Freiheit gebracht. Nicht umsonst fragt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal: „Sind wir jetzt freier? Die Grausamkeit unserer Brüder ist entsetzlicher, als die Gier der Siedler es je war.“ Die Schwäche der FLN in Algerien begünstigte die Machtübernahme des Militärs nach Abzug der Franzosen. In den Flüchtlingslagern in Marokko und Tunesien formierte sich während des Krieges eine schlagkräftige Armee unter dem späteren Verteidigungsminister Houari Boumedienne, die 1962 mit dem politischen Führer Achmed Ben Bella an der Spitze nach Algier marschierte und das Machtvakuum füllte. Historiker sprechen in diesem Kontext vom ersten Staatsstreich in der Geschichte Algeriens. Der Machtkampf innerhalb der FLN entbrannte und stellte mit dem Militärputsch von 1965 endgültig die Weichen in Richtung Militärdiktatur.
Es formierte sich eine kleine korrupte Elite, die den Staat wirtschaftpolitisch auf den Erdölsektor ausrichtete und die Pfründe unter sich aufteilte. Der Agrarsektor war bis Mitte der 1980er Jahre ruiniert, der Versuch des industriellen Aufbaus gescheitert. Die Arbeitslosigkeit stieg massiv an und die sozialen Probleme des Landes konnten fortan nicht mehr mit den Ölgeldern kaschiert werden. Der algerische Frühling 1988 kostete mindestens 500 Demonstranten das Leben, bis der Staat politische Reformen einleitete, das Einparteiensystem demontierte und freie Wahlen abhielt.
Als die radikalislamistische Front Islamique du Salut (FIS) nach den Kommunalwahlen 1990 auch die erste Runde der Parlamentswahlen erdrutschartig gewann, putschte sich das Militär wieder an die Macht. Es begann der Bürgerkrieg der 1990er Jahre, in dem sich Teile der FIS-Anhängerschaft radikalisierten und den bewaffneten Kampf einleiteten. Die Reaktion der Militärs war nicht minder radikal, die Generäle nutzen die Situation und initiierten eine von den USA und Frankreich unterstützte Counter-Insurgency-Strategie. Viele Massaker auf dem Land werden heute nicht mehr den bewaffneten islamistischen Gruppen zugeschrieben, sondern Armeeeinheiten, die als Islamisten verkleidet die öffentliche Diskreditierung der Radikalislamisten zum Ziel hatte. In ihrem Roman „Das verlorene Wort“ schreibt die algerische Schriftstellerin Assia Djebar: „Wir hatten die Wahl zwischen der Kaserne und der Moschee.“
Das vom Militär dominierte Regime speiste bis dahin seine Legitimität einzig aus dem Kampf gegen Frankreich und musste nach dem Putsch 1991 dringend seine Legitimitätsbasis erneuern. Seither verkauft sich die Armeeführung mit logistischer und politischer Unterstützung der USA und Europa als Bollwerk gegen den islamistischen Terrorismus im Maghreb. Durch die Einbindung der gemäßigt islamistischen MSP in die Regierungskoalition 1997 war jedoch seit Ende des Bürgerkrieges um die Jahrtausendwende erneut eine Zunahme der Überbetonung der Rolle von FLN und Militär im Unabhängigkeitskrieg festzustellen. Die staatlich verordnete Erinnerungskultur ist wichtig für das Regime, wirtschaftspolitisch hat das Regime schließlich nicht viel vorzuweisen und die Korruption ist unübersehbar.
Alljährlich werden im gesamten Land Paraden, Konzerte und Großveranstaltungen organisiert. Das Staatsfernsehen zeigt fast ununterbrochen Spielfilme und Dokumentationen zum Thema und öffentliche Gebäude sind geschmückt mit überlebensgroßen Konterfeis von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika (FLN) und der algerischen Flagge. Gerade vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings, der bisher an Algerien fast spurlos vorbeigezogen ist, wird der 50. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit ausgiebig gefeiert. Das Regime ist gezwungen immer wieder auf die Unterdrückung durch die Kolonialmacht Frankreich zu verweisen, um von eigenen Verfehlungen abzulenken.
Dennoch spielt die politische und militärische Elite des Landes ein riskantes Spiel. Die algerische Bevölkerung ist extrem jung und kaum jemand hat den Krieg gegen Frankreich geschweige denn die Unterdrückung der Siedler und der französischen Armee am eigenen Leibe erfahren. Die Menschen wollen Arbeit, ein Mindestmaß an politischer Partizipation und vor allem eine Perspektive. Von den Erinnerungen an einen längst vergangenen Krieg wird keiner satt und der Ruf Bouteflikas, dem zu Beginn seiner Amtszeit noch zugutegehalten wurde, dass er den Bürgerkrieg beendet hatte, ist inzwischen ruiniert. Als Vertreter der alten Garde – als enger Vertrauter Boumediennes war er von 1963 bis 1979 Außenminister – ist seine Person heute ebenso diskreditiert wie die korrupte Armeeführung.
Das Verkehrsministerium verkündete vor wenigen Tagen, das vom 4. bis 6. Juli die Nutzung der 2011 eröffneten Metro in Algier und der Straßenbahnen in den Großstädten kostenfrei sei. Derartige Vergünstigungen sind kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Derartige Initiativen haben eher eine Ventilfunktion. Auf dem Höhepunkt des Arabischen Frühlings reagierte das Regime mit zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Versprechungen, um den Druck der Straße zu kanalisieren. Zwar brachen in Algerien im Gegensatz zum regionalen Umfeld nur kurzfristige Aufstände und Demonstrationswellen los, die historischen und politischen Vorzeichen unterschieden sich jedoch auch deutlich von denen der Nachbarländer. Algerien hat seinen Frühling bereits Ende der 1980er Jahre durchlebt. Seit Anfang des Jahrtausends sind lokale Unruhen an der Tagesordnung, eine breite Massenbewegung konnte sich jedoch bisher nicht formieren. Sicher ist, dass auch Algerien erneut von einer Protestwelle erschüttert werden wird, doch bleibt zweifelhaft, ob sich die algerische Bevölkerung von der Dynamik in der Region anstecken lässt.
© Sofian Philip Naceur 2012