Außenminister Guido Westerwelle (FDP) war zu Beginn der Woche der erste westliche Spitzenpolitiker, der nach Amtsantritt des neuen ägyptischen Staatspräsidenten Mohamed Mursi das Land am Nil besuchte. Wie es in Diplomatenkreisen heißt, war der Besuch keineswegs ein operativer Staatsbesuch, sondern vielmehr eine symbolische Geste mit dem Ziel die Stabilisierung der innenpolitischen Lage Ägyptens zu unterstützen. Weiter heißt es Westerwelles Besuch werde in den kommenden Wochen nicht der einzige seiner Art bleiben. Die politischen Unsicherheiten seit der ägyptischen Revolution und dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak im März 2011 liegen keineswegs im Interesse des Westens, dem an einer zügigen Rückkehr zur Normalität gelegen ist. Nicht überraschend wird am morgigen Samstag US-Außenministerin Hillary Clinton in Kairo erwartet. Die den koptischen Christen nahe stehende Jugendorganisation Maspero Youth Union rief zu einer Protestkundgebung vor der US-Boschaft im zentralen Kairoer Stadtteil Garden City auf.
Wie die britische Nachrichtenagentur Reuters berichtet, werden in den kommenden Wochen weitere US-Spitzenpolitiker in Ägypten erwartet, unter anderem der ehemalige CIA-Chef und amtierende US-Verteidigungsminister Leon Panetta. Diese und gewiss noch folgende Antrittsbesuche europäischer und nordamerikanischer Spitzenpolitiker sollen die politische und wirtschaftliche Stabilisierung des geopolitisch so wichtigen Landes am Nil vorantreiben und die Einbindung der bis vor wenigen Jahren noch konsequent dämonisierten Muslimbrüder in das politische Weltgeschehen erleichtern. Vor allem Europa und die USA verfolgen in der arabischen Welt von Marokko über Ägypten bis Irak neben geopolitischen Zielen auch wirtschaftliche Interessen. Insbesondere die Instabilitäten in Ägypten gefährden die westlichen Strategien in Sachen Nahostkonflikt und Handelspolitik, vor allem ob der strategischen Bedeutung des Suez-Kanals.
Seit der Arabische Frühling vielerorts die gemäßigten Islamisten an die Macht gespült hat oder ihnen zumindest spürbare Einflussgewinne bescherte, können Europäische Union und Vereingte Staaten die oft als moderate Islamisten bezeichnete politische Strömung in der arabischen Welt schlicht nicht mehr ignorieren. Erleichternd kommt gewiss hinzu, dass insbesondere die ägyptischen Muslimbrüder eine eher neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgen, sie stehen einer generellen Öffnung der Märkte wie der Privatisierung von Staatsbetrieben äußerst positiv gegenüber und machten seit dem erneuten Ausbruch von Streikwellen in Ägypten seit der Revolution vor knapp 18 Monaten immer wieder mit der öffentlichen Ablehnung von Arbeitsniederlegungen von sich reden. Ebenso wie dem in Kairo seit Mubaraks Sturz herrschenden Militärrat (SCAF, Supreme Council of the Armed Forces) sind die Muslimbrüder an einer raschen Stabilisierung der innenpolitischen Situation interessiert. Eine Machteilung zwischen den beiden bürgerlichen Lagern der Militärs und den konservativen Muslimbrüdern zeichnet sich trotz des derzeitigen Gerangels zwischen beiden ab. Der TV-Sender Al Jazeera aus Katar zitiert in der Sendung „Empire“ vom 13. Juli einen Vertreter der Muslimbrüder, der betont, die Organisation bezeichne sich als reformorientiert und nicht als revolutionär.
Während der den Muslimbrüdern nahe stehende Präsident Mohamed Mursi mit dem Westen kokettiert baut er auf der anderen Seite seine Beziehungen zu den islamischen Staaten massiv aus. Sein erster Staatsbesuch im Ausland fand nicht ganz überraschend diese Woche in Saudi-Arabien statt, die neue Staatsführung hofft auf finanzielle Zuwendungen und politischen Rückenwind aus Riad, im Übrigen einem wichtigen Verbündeten Europas und der USA im geopolitischen Regionalmachtkampf mit Iran. Auch vernetzten sich die moderaten islamistischen Parteien in der arabischen Welt, die fast alle gestärkt aus den Aufständen der letzten 18 Monaten hevorgegangen sind, zunehmend. Heute reiste der tunesische Präsident Moncef al-Marzouki, dessen Mitte-Links Partei mit der konservativen Ennahda-Bewegung eine Koalition gegründet hat, nach Kairo und traf sich mit Ägyptens Staatpräsident. Mursi betonte die Hauptziele der Menschen in beiden Ländern während den Revolten seien Demokratie und Partizipation gewesen. Beide Staatsoberhäupter betonten ihre Einheit. Marzouki hob in Bezug auf die jahrzehntelange Zerstrittenheit der Staaten Nordafrikas hervor, die Ära, in denen man sich den Rücken kehrte, sei vorbei. Samstag früh ist ein Besuch Marzoukis aus dem Tahrir-Square geplant, dem Platz im Herzen Kairos, an dem die ägyptischen Revolution 2011 begann. Der Tahrir ist inzwischen zum Symbol der Arabellion geworden.
Die Protestaufrufe der koptischen Jugend gegen den Ägypten-Besuch der US-Außenministerin sind Zeichen der zunehmenden Unsicherheit, denen sich Teile der christlichen Minderheit am Nil unter Präsident Mursi ausgesetzt sehen. Bereits während der Umbruchphase im vergangenen Jahr hatte es zunehmend gewaltsame Konfrontationen zwischen Muslimen und Christen in Ägypten gegeben. Hatten zu Beginn der Revolution noch Gruppen beider Religionsgemeinschaften gemeinsam für einen Politikwechsel protestiert, hatte das alte Regime und später das Militär um den SCAF gezielt versucht einen Keil zwischen die verschiedenen Oppositionsgruppen zu treiben. Koptische Gruppen fürchteten immer wieder eine konservative Wende im Land und eine für sie noch schwierigere Alltagssituation mit dem anwachsenen politischen Einfluss der Ultrakonservativen um die Salafistenpartei al-Nour, die bei den Parlamentswahlen zweitstärkste Kraft wurde. Im Oktober starben bei einer Demonstration im Kairoer Stadtviertel Maspero 27 christliche Kopten, als das Militär mit gepanzerten Fahrzeugen in die Menge raste und mit scharfer Munition das Feuer eröffnete. Die Destabilisierungskampagne der herrschenden Eliten ging auf. Zunächst berichtete das staatliche Fernsehen, Kopten hätten drei ägyptische Soldaten erschossen, Informationen, die sich später als falsch herausstellten.
Die Stimmung in Teilen der ultrareligiösen muslimischen Gemeinden kochte über und es gab zahlreiche Übergriffe auf koptische Demonstrationen, Kirchen wurden niedergebrannt. Politisch aktive Gruppen aus dem säkularen, liberalen und linken Lager suchten immer wieder den Schulterschluss mit ihren koptischen Mitbürgern, Teile der christlichen Comunity fürchten dennoch nach wie vor schwierge Zeiten unter einem den Muslimbrüdern nahe stehenden Staatspräsidenten, auch wenn dieser in seinen Antrittsreden betonte alle Bevölkerungs- und Religionsgruppen des Landes vertreten zu wollen. Zahlreiche führende Köpfe der christlichen Minderheit in Ägypten betonten jedoch weiterhin optimistisch in die Zukunft zu blicken und gratulierten dem neu gewählten Präsidenten nach seiner Amtseinführung. In Kairo wird zudem seit seiner symbolischen Rede auf dem Tahrir Square vom 30. Juni gemunkelt er wolle einen Kopten als Vizepräsidenten einsetzen. Der Protestaufruf von der Maspero Youth Union am Samstag vor der US-Botschaft gegen den Besuch von Hillary Clinton zu demonstrieren soll dennoch unterstreichen, dass man in koptischen Kreisen die Annäherung des Westens an die Muslimbrüder mit Argusaugen betrachtet.
© Sofian Philip Naceur 2012