Die Regierungsbildung in Algerien ist abgeschlossen, doch der Machtkampf im Staatsapparat ist keineswegs ausgestanden. Die Ernennung des farblosen Technokraten Abdelmalek Sellal zum Premierminister deutet auf sich fortsetzende Flügelkämpfe vor der Präsidentschaftswahl 2014 hin.
Fast vier Monate hat es gedauert bis der politische Stillstand in Algerien nach den Parlamentswahlen vom 10. Mai 2012 beendet werden konnte. Schon letzte Woche ernannte Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika von der Front de Liberation National (FLN) den parteilosen Technokrat Abdelmalek Sellal zum neuen Premierminister und stellte das neue leicht verkleinerte 36köpfige Kabinett vor. Der 64 jährige Sellal gilt als enger Vertrauter Bouteflikas und war zuvor Botschafter Algeriens in Ungarn, Gouverneur mehrerer Wilayas (Bundesländer), politischer Berater im Innen- und Außenministerium und leitete den Präsidentschaftswahlkampf Bouteflikas 2004 und 2009. Zuletzt war Sellal Minister für Wasserwirtschaft im Kabinett von Ahmed Ouyahia vom Rassemblement National Démocratique (RND). Noch am Tag seiner Vereidigung betonte Sellal er wolle im Land aufräumen. Neben der Reform des öffentlichen Dienstes versprach er die Wasser- und Stromversorgung zu verbessern und die Abhängigkeit Algeriens vom Energiesektor zu reduzieren.
Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung ist zudem die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und damit das Einlösen eines der zentralen Versprechen des Regimes vom Frühjahr 2011. Damals drohte der Arabische Frühling auf Algerien überzugreifen und das Regime versuchte die neu formierte Demokratiebewegung im Keim zu ersticken. Komplementär zur Machtdemonstration des Polizei- und Militärapparates bei regimekritischen Demonstrationen 2011 legte das Regime umfangreiche Konjunkturprogramme auf und kündigte politische Liberalisierungen und die Verabschiedung einer neuen Verfassung an.
An den Parlamentswahlen im Mai nahmen zwar nach einer Welle an Neuzulassungen so viele politische Parteien teil wie nie zuvor, dennoch baute der FLN seine Vormachtstellung in der Nationalversammlung weiter aus. Das Parlament in Algier hat letztendlich jedoch wenig Einfluss, die wesentliche politische Entscheidungsinstanz ist ein Geflecht aus mächtigen Militärs, alten FLN-Kadern und Bürokraten. Die Machtverteilung in Algier wird vielmehr hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, der parlamentarische Prozess und die Wahlen zum Parlament sind lediglich Makulatur.
Angesichts der zunehmenden Zersplitterung des linken und islamistischen Lagerns und des guten Abschneidens der FLN wurde gemeinhin mit einer zügigen Neuformierung der Exekutiven gerechnet, doch offenbar schwelten die im Winter ausgebrochenen Macht- und Flügelkämpfe in der algerischen Staatsklasse und auch innerhalb der FLN weiter und verhinderten ein schnelles Ende des politischen Stillstandes. Die seit 1997 regierende Koalition aus FLN, RND und dem gemäßigt islamistischen Mouvement de la société pour la paix (MSP) war Anfang Januar nach dem Austritt der MSP zerbrochen. Kurz darauf und mitten in der heißen Phase des Wahlkampfes begann der Machtkampf auch den FLN zu zerreißen. Der konservative den moderaten Islamisten nahe stehende Generalsekretär Abdelaziz Belkhadem entkam dabei nur knapp einem Misstrauensvotum und hinterließ den Eindruck einer in sich völlig zerstrittenen Partei.
Die vier Monate seit dem Urnengang haben den konkurrierenden Fraktionen im Staats- und Parteiapparat offenbar nicht gereicht, um die Machtaufteilung in der Staatsklasse im stillen Kämmerlein neu auszuhandeln. Das Ergebnis ist ein farbloses Technokratenkabinett unter dem Kompromisskandidaten Sellal. Nur 13 Posten wurden neu besetzt, wobei die Schlüsselpositionen im Innen-, Außen- und Energieministerium unangetastet blieben. Während einige enge Vertraute Bouteflikas aus der Regierung ausgeschieden sind, wie der vormalige Vize-Premier Yazid Zerhouni, bleiben zwei der vier MSP-Minister auf ihren Posten: Handelsminister Mustapha Benbaba und der inzwischen aus der MSP ausgeschiedene Bauminister Amar Ghoul. Zudem sitzen drei Vertreter der berberischen Minderheit im Kabinett. Die Frauenquote jedoch scheint nur für das Parlament zu gelten, nicht aber für die Exekutive. Bei den Parlamentswahlen zogen über 140 Frauen in die Nationalversammlung ein, im neuen Kabinett hingegen sitzen nur drei Ministerinnen und eine Staatssekretärin.
Die Installation eines Technokratenkabinetts und die Ernennung des farblosen Sellal als Regierungschefs werfen jedoch Fragen auf, vor allem da die beiden Favoriten auf den Posten des Premierministers FLN-Generalsekretär Belkhadem und Ex-Premier Ouyahia vom RND leer ausgingen. Kommentatoren zufolge gelten beide als potentielle Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2014, schließlich wird angenommen, dass der als geschwächt und isoliert geltende seit 1999 amtierende Staatspräsident Bouteflika nicht wieder antreten wird. Die Präsidentschaftswahl 2014 könnte eine politische Weichenstellung werden, kein Wunder also, dass der Machtkampf zwischen staatssozialistischen, marktwirtschaftlich orientierten und konservativen Fraktionen in Algeriens Staatsklasse insbesondere auf diesen Urnengang ausgerichtet ist.
Bislang hatten Kandidaten aus der FLN traditionsgemäß die besten Chancen auf den einflussreichen Posten, doch Ouyahias enge Verbindungen zu Algeriens Generälen, ohne deren Zustimmung kein politisches Führungsamt in dem nordafrikanischen Land vergeben wird, könnten den RND-Politiker zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für den FLN machen. Die Kommunalwahlen Ende November könnten ein wichtiger Stimmungstest für den so wichtigen Urnengang 2014 werden (erschienen bei Zenith Online).
© Sofian Philip Naceur 2012