Christine Buchholz und Annette Groth, Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, besuchten im September Ägypten und Tunesien. Im Interview berichten sie unter anderem über die Streikwelle in Ägypten und die Studentenproteste an der German University of Cairo.
Sofian Naceur: Ägypten erlebt derzeit eine intensive Streikwelle. Wie habt ihr die aktuelle Situation von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in Ägypten erlebt?
Christine Buchholz: Die Realität in Kairo ist tatsächlich eine andere als wir es in den deutschen Medien vermittelt bekommen. Bevor wir losgefahren sind, hat uns das Auswärtige Amt dringend abgeraten, nach Ägypten und Tunesien zu fahren. Vor dem Hintergrund der Proteste gegen das antiislamische Schmähvideo sei die Gefahrenlage nicht abzuschätzen. Tatsächlich haben wir von diesen Protesten nichts mitbekommen. Doch die Streikwelle war unübersehbar. Der Verkehr bewegte sich noch langsamer als sonst, weil Busdepots bestreikt wurden. Wir stolperten am ersten Tag vor dem Parlament über streikende Lehrer. Insgesamt habe es im Sommer 400 Streiks im Land gegeben, so erzählten uns Kollegen vom unabhängigen Gewerkschaftsverband EFITU. Die Forderungen sind mannigfaltig. Doch bei allen geht es um mehr Lohn und zugleich um Tathir, um „Säuberung“ – d. h. die Beseitigung der Manager aus Mubaraks Zeiten. Die Arbeiter bei Henkel-Ägypten zum Beispiel bekommen ein lächerliches Grundgehalt. Der Rest wird vom Betriebsergebnis abhängig gemacht. Doch die Bilanzen werden nicht offen gelegt. Die Manager geben einfach ein schlechtes Betriebsergebnis vor, um die Arbeiter um den Lohn zu prellen. Daher fordern sie die Erhöhung des Grundgehalts, aber zugleich die Absetzung der Manager. Wenn diese „Manager“ herausgeschmissen werden sollen, dann ist das ist im Kern die Forderung nach der Vertiefung des Umwälzungsprozesses in Richtung sozialer Revolution. Allerdings ist dieses Bewusstsein nicht verbreitet, auch nicht bei den kämpfenden Arbeitern selbst. Viele Beschäftigte halten ihren Kampf für rein auf den eigenen Betrieb bezogen. Uns wurde erzählt, dass die Henkel-Arbeiter nur 200 Meter entfernt vom ebenfalls bestreikten Pirelli-Werk kämpften, ohne dass es einen Austausch zwischen beiden Gruppen gab.
Annette Groth: Es ist offensichtlich, dass politische Freiheiten in höherem Maße als unter dem Mubarak-Regime verwirklicht sind, sich aber in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit und eine ökonomische Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen bislang kaum etwas geändert hat. Im Gespräch mit den Doctors without Rights wurde deutlich, dass ÄrztInnen, geschweige denn sonstiges Krankenhauspersonal, keinesfalls von ihrer Arbeit leben können. Was sich aber sehr verändert zu haben scheint, ist die persönliche Einsatzbereitschaft. Die Menschen sind bereit, sich für die Verbesserung der Verhältnisse einzusetzen. Ich bin überzeugt, dass dies eins der wichtigsten Resultate der Revolution ist: die Menschen kämpfen jetzt für ihre Rechte.
Sofian Naceur: Was hat sich für unabhängige Gewerkschaften verändert seit der Revolution?
Annette Groth: In Ägypten haben sich seit der Revolution 2011 1.000 neue Gewerkschaften gegründet. Zugleich stehen 35 % der Wirtschaft unter Kontrolle der Armee, z. B. die Textil-, die Metallindustrie und der Tourismus. Hier stellt sich die Frage, welchen Einfluss Gewerkschaften dort überhaupt ausüben können. In den alten Gewerkschaften scheint sich nicht viel verbessert zu haben. Ein Problem, das immense Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Menschen hat, sind die so genannten „Camp David Companies“. In Ägypten gibt es 21 Freihandelszonen, 15 davon sind ägyptisch-israelische Joint Ventures, deren Produkte zu 100 Prozent in die USA geliefert werden. Skandalös ist zudem das ägyptisch-israelische Gasabkommen, dem zufolge den Israelis ein ausgesprochen niedriger Preis, der unter dem Weltmarktpreis für Gas liegt, garantiert wird. Der Gaspreis in Ägypten ist hingegen wesentlich höher Dies hat bereits zu massiven Protesten gegen das Abkommen geführt. Nach offiziellen Angaben wurde das Gasabkommen ausgesetzt. Das bedeutet ja noch keinesfalls, dass es auch außer Kraft gesetzt wurde, sondern eben nur ausgesetzt.
Auch in Tunesien wurde deutlich, dass die ökonomische Lage desaströs ist. Viele Menschen sagten ganz klar, es gehe ihnen schlechter als vor der Revolution. Was mich erstaunt hat, ist der gute Informationsstand der Gewerkschafter über das EU-Assoziationsabkommen mit Tunesien. Wie überall geht es hier um die Durchsetzung niedriger Löhne, um ein „gutes Investitionsklima“ für ausländische Konzerne zu schaffen. Der unabhängige Gewerkschaftsbund UGTT klärt seine Mitglieder über die neoliberale Politik der EU auf, die sich negativ auf die ArbeitnehmerInnen auswirkt. Da können sich deutsche Gewerkschaften noch einiges abgucken, denn solche EU-Abkommen werden hierzulande viel zu wenig beachtet.
Christine Buchholz: Die Revolution hat zum Aufblühen selbständiger Organisationsformen geführt. Arbeiter trauen sich, ihren Mund aufzumachen. Gleichzeitig hat sich aber die soziale Lage nicht verbessert, weil die Militärregierung und die Unternehmer – die oft selbst Generäle sind – nicht freiwillig Zugeständnisse machen, nur weil der Präsident nicht mehr Mubarak heißt. Frauen spielen eine wichtige Rolle in den Arbeitskämfen. Arbeiterinnen trieben den historischen Streik 2006 im Textilwerk in Mahalla al-Kubra voran. Wir waren in Tunesien bei einer Werksbesetzung beim deutschen Kabelbaumhersteller LEONI, die zu drei Vierteln von Frauen durchgeführt wurde. Das im Westen verbreitete Bild von der muslimischen Frau, die sich unter ihrem Kopftuch nicht traut aufzubegehren, hat mit der Realität nichts zu tun. Fatma Ramadan, die Streikkoordinatorin der EFITU, steht in Militanz ihren männlichen Kollegen in nichts nach.
Sofian Naceur: Während eures Besuchs gab es Studentenproteste an der German University in Cairo (GUC). Warum und wofür demonstrieren die Studierenden?
Annette Groth: Die StudentInnen der GUC fordern mehr Transparenz und Mitbestimmung an der Universität und dies ist völlig legitim und absolut zu unterstützen. Statt das Recht der Studierenden auf eine unabhängige Interessenvertretung anzuerkennen, hat die Leitung der GUC StudentInnen und MitarbeiterInnen der Universität, die sich dafür einsetzen, suspendiert. Dass gegen Proteste im Februar 2011 gar mit Hilfe des Militärs vorgegangen wurde, ist absolut inakzeptabel. Die GUC, in der viele VertreterInnen des alten Regimes hohe Positionen bekleiden, zeigt, wie wenig sich geändert hat. Eine unserer GesprächspartnerInnen sagte, die GUC sei mehr ein Militärcamp als eine Hochschule. Man muss unbedingt erhöhten Druck auf die Partnerorganisationen der GUC ausüben. Die Uni wird vom DAAD, dem Auswärtigen Amt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und ist mit den Universitäten Ulm und Stuttgart eng verbunden. Ich erwarte von diesen Institutionen, dass sie eine weitere Förderung der GUC von der Schaffung demokratischer Strukturen abhängig machen.
Sofian Naceur: Warum wird Ägyptens neues Regime unter Präsident Mohamed Mursi von der EU, Deutschland und den USA auch weiterhin massiv mit Rüstungsgütern versorgt?
Christine Buchholz: Ägypten erhielt und erhält noch immer von den USA jährlich Militärhilfe in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar. Mubarak galt ihnen als Bollwerk gegen die Islamisten. Bis zur Stunde seines Sturzes hatte sich weder Obama, noch Westerwelle oder Merkel auf die Seite der Demokratiebewegung gestellt. Ihre Angst war die Machtübernahme durch die Muslimbrüder. Der Grund für die Unterstützung des Muslimbruders Mursi durch die USA, ist die demonstrative Bereitschaft von Mursi, mit dem ägyptischen Militär zu paktieren. Die Generäle verloren zwar an exekutiver Macht, aber wurden mit Gouverneursposten und einträglichen wirtschaftlichen Positionen versorgt.
EU, Deutschland und die USA wollen weiter Einfluss nehmen auf die Entwicklungen in der Region. Mursi ist nicht frei. Ihm sitzen nach wie vor das Militär im Nacken sowie EU und IWF. Vertreter des politischen Arms der Muslimbrüder, der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“, sagten uns: Kritisieren in der Opposition ist einfach, an der Regierung muss man realistisch sein. Dazu gehöre auch, internationale Verträge wie den Vertrag mit Israel, einzuhalten. Von daher gibt es für den Westen kein Problem mit der weiteren Aufrüstung des ägyptischen Militärs. Für deutsche Unternehmen ist das ein gutes Geschäft. Zudem sind Mursi und seine Partei weder gewillt noch in der Lage, die Macht der Mubarak-Seilschaften und Militärs zu brechen.
Sofian Naceur: Gewerkschaften und soziale Bewegungen sind im Aufwind, viele wünschen sich aber nichts anderes als Arbeit und politische Stabilität. Ist die Revolution nicht längst vorbei?
Annette Groth: Nein, die Revolution ist keineswegs vorbei. Aida Seif ad-Dawla, eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, sagte, eine Revolution verlaufe in Wellen: momentan sei die Welle weit unten, internationale Solidarität sei wichtig, um sie wieder in Gang zu bringen. Sie erzählte uns, dass Folter im post-revolutionären Ägypten noch genauso verbreitet sei wie unter Mubarak und die Folterpraktiken noch erschreckender geworden seien. Der Unterschied zu früher sei aber, dass ein großer Teil der Opfer sich nicht mehr verstecke, sondern über die gegen sie verübten Misshandlungen spreche. Um die Folter zu beenden, müsse der gesamte Sicherheitsapparat abgeschafft werden. In diesen Institutionen säßen dieselben Leute wie vor der Revolution. Das gleiche treffe auf Staatsanwälte und den Justizapparat zu. Darum sei bisher niemand wegen Folter zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn verurteilt worden.
Wir müssen dafür eintreten, dass sich die Situation der Menschen nicht noch verschlechtert. Wir sollten auf EU-Ebene bei der Aufwertung der wirtschaftlichen Beziehungen zu beiden Ländern ansetzen. Die Assoziierungsabkommen der EU mit den Mittelmeerländern schreiben in Artikel 2 die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Grundsätzen vor. Hiervon kann in beiden Ländern auch nach den Revolutionen kaum die Rede sein. Vor allem Tunesien strebt eine Aufwertung seiner Wirtschaftsbeziehungen mit der EU an. Für diese müssen wir die Einhaltung der bereits abgeschlossenen Abkommen, insbesondere Artikel 2, zur Vorbedingung machen.
Christine Buchholz: Eines ist klar geworden: beide Länder stecken in einer Übergangsperiode, deren Ausgang ungewiss ist. Immer wieder sagte man uns: die Revolution hat uns unsere Würde zurückgegeben, aber hinsichtlich des Lebensstandards hat sich nichts verändert. Niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit, allgemeine Unsicherheit: das prägt beide Länder. Deshalb taucht häufig das Wort von einer „zweiten Revolution“ auf, die nötig sei. Doch es gibt keinen Automatismus. Wir haben den Gewaltapparat gesehen, der in Tunis aufgefahren wurden, um die Minderheit der Salafisten in Schach zu halten. Dieser Apparat besteht aus alten Kadern und Schlägern, die der Ben Ali-Diktatur die Herrschaft gesichert haben. Sie sind immer noch da und wollen die Uhren zurückdrehen. Fathi Chamki von RAID (attac) erklärt uns: die Regierung benutzt die Salafisten als Vorwand, um den Repressionsapparat wieder aufzubauen. Die derzeit instabile Situation kann nicht ewig fortbestehen. Entweder die Vertiefung der Revolution in Staat und Gesellschaft schreitet voran oder es wird zu einer autoritären Restauration kommen.
Internationale Solidarität mit der Revolution und dem Kampf um die Durchsetzung ihrer Ziele steht weiter auf der Tagesordnung. Wir können den Druck auf Regierung und Kapital erhöhen, in der EU eine Politik zu betreiben, die diese Länder Nordafrikas nicht zum bloßen Reservoir für billige Arbeitskräfte und zur Schutzmauer gegen afrikanische Flüchtlinge degradiert. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir jene unabhängige Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien, die die Revolution in Nordafrika vorantreiben wollen.
© Sofian Philip Naceur 2012