Am Dienstag versammelten sich rund 4000 Menschen vor dem Maspero-Gebäude, dem Sitz des staatlichen ägyptischen Rundfunks, an der Nilpromenade in Downtown Kairo und gedachten der Opfer des Massakers vom 9. Oktober 2011. Damals waren bei Protesten koptischer Christen gegen die Zerstörung einer Kirche in Assuan bis zu 28 Menschen getötet und über 300 verletzt worden. Die Proteste in Oberägypten gegen die Zerstörung der Kirche in Assuan 2011 breiteten sich zügig bis nach Kairo aus. Im September hatte es im ganzen Land auffallend viele Übergriffe gegen Kirchen und koptische Einrichtungen gegeben. Der im Kairoer Armenviertel Shubra begonnene Protestzug bewegte sich am ägyptischen „Bloody Sunday“ Richtung Innenstadt bis vor den staatlichen Rundfunk an der Nilbrücke 6th of October. Bereits während des Marsches wurden Demonstranten mit Steinen beworfen. Doch die spätere Eskalation des friedlichen Protestmarsches sprengte alle Befürchtungen.
Die vor dem Staatsrundfunk stationierten Polizei- und Militäreinheiten rasten gezielt mit mehreren gepanzerten Fahrzeugen in die Menschenmenge und setzten scharfe Munition ein. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MENA wurden 14 Menschen von Radpanzern überfahren und mindestens neun unbewaffnete Demonstranten und ein ägyptischer Soldat erschossen, über 300 Menschen wurden verletzt. NGO’s geben die Zahl der Todesopfer gar mit 28 an. Der damals faktisch regierende Militärrat (Supreme Council of the Armed Forces, SCAF) wies jedwede Verantwortung von sich, die Militärführung versucht bis heute zivile Untersuchungen der Vorfälle zu verhindern.
Auch die unrühmliche Rolle des Rundfunks bei den auf die Militärgewalt folgenden Übergriffen von Zivilisten auf die christlichen Demonstranten ist bis heute nicht aufgeklärt. Während der Eskalation an der Nilpromenade berichtete das Staatsfernsehen, bewaffnete Christen hätten drei ägyptische Soldaten erschossen und rief „ehrenwerte Bürger“ dazu auf die Armee „zu verteidigen“. Auf diesen Aufruf folgte eine Hetzjagd koptischer Demonstranten, zahlreiche Menschen wurden verletzt.
Das vorsätzliche Schüren sektiererischer Gewalt durch staatliche Institutionen ist jedoch nicht neu und gehört offensichtlich zum Standardrepertoire alter Regime- und Militärkader, um einen Keil in die Oppositionsbewegung zu treiben. Schon während der Revolution 2011 waren Dokumente des Innenministeriums aufgetaucht, die veranschaulichen, wie das Mubarak-Regime versuchte Christen und Muslime gegeneinander aufzuhetzen, um die regimekritische Opposition zu zersplittern.
Die Gedenk- und Protestkundgebung vergangenen Dienstag vor dem Maspero-Gebäude verlief im Gegensatz zum Vorjahr friedlich. Bereits am Nachmittag versammelten sich hunderte Menschen an der Nilpromenade und skandierten Parolen zum Gedenken an die Opfer des Massakers vom 9. Oktober und gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte während und vor allem nach der Revolution.
Autonome zündeten Bengalos und versuchten erfolglos die Straße zu blockieren, wurden aber von anderen Demonstranten daran gehindert. Nach und nach trudelten immer mehr Protestgruppen am staatlichen Rundfunkgebäude ein, bis am Abend der Hauptzug, der wie 2011 in Shubra gestartet war, die Menge auf mehrere Tausend anschwellen ließ und den Verkehr völlig zum Erliegen brachte. Polizei und Militärs waren kaum präsent und griffen auch bei den kurzweiligen Störversuchen der Autonomen nicht ein. Maspero glich dennoch einer Festung, schließlich ließen die Behörden nach dem Massaker 2011 meterhohe Stacheldrahtzäune um das Gebäude errichten.
Die Demonstranten forderten die „Säuberung“ des Staatsrundfunks, noch immer seien die alten Institutionen mit Vertretern des alten Regimes besetzt. Ein post-revolutionärer Neubeginn sieht anders aus. Die Hauptforderung der Protestierenden ist Gerechtigkeit für die Opfer. Bisher sind lediglich drei Soldaten zu zwei und drei Jahren Haft verurteilt worden – wegen fahrlässiger Tötung und Totschlag! Die drei Verurteilten hatten die gepanzerten Fahrzeuge gesteuert, die am 9. Oktober Protestierende überfahren hatten. Die Verantwortlichen für das Massaker sollen jedoch zur Rechenschaft gezogen werden. Offiziere und führende SCAF-Mitglieder blieben bisher unbehelligt, doch es erscheint unwahrscheinlich, dass die Soldaten ohne Weisung von oben gehandelt haben. Die Militanz, mit der die Generäle versuchten eine zivile Aufklärung der Ereignisse zu verhindern, spricht Bände. Trotz langer bürokratischer Prozesse sind zwar Zivilverfahren zum Maspero-Massaker eröffnet worden, jedoch endete noch keines mit einem rechtskräftigen Urteil.
Inzwischen sind über zwei Dutzend Zivilklagen gegen den ehemaligen Vorsitzenden des Militärrates Feldmarschall Hussein Tantawi, den von Staatspräsident Mohamed Mursi abgesetzten Stabschef Sami Annan sowie den ehemaligen Chef der Militärpolizei Hamdy Badeen vom Staatsanwalt an den Justizminister übergeben worden. Ob es zu Anklagen geschweige denn transparenten Verfahren oder gar Verurteilungen kommen wird ist jedoch zweifelhaft, schließlich sind die Genannten nach wie vor eng mit dem Regime verbunden oder noch politisch aktiv. Tantawi wurden nach seiner Absetzung gar zum Berater des Staatspräsidenten ernannt und wird sich einer Zivilklage konsequent wiedersetzen.
Zu den Protesten aufgerufen hatten die koptische Jugendorganisation Maspero Youth Union (MYU), die Bewegung des 6. April und zahlreiche zivilgesellschaftliche und politische Gruppen. Neben linken und koptischen Jugendgruppen und zahlreichen Muslimen nahmen auch Vertreter des koptischen Klerus an der Gedenkveranstaltung teil, obwohl die Aktivitäten der MYU einigen Klerikern ein Dorn im Auge sind. Der koptische Klerus hatte bereits unterdem Regime Mubarak den politischen Einfluss der christlichen Minderheit erfolgreich monopolisiert, offen mit dem SCAF sympathisiert und droht ihren Einfluss an der Basis nun durch die zunehmende Mobilisierungskraft der von der Kirche unabhängig agierenden MYU und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen zu verlieren.
Eine Demonstrantin sagte am Abend die Kirche solle sich nicht den Militärs und alten Regimekadern anbiedern und mit ihnen kooperieren, sondern sich auf ihre spirituelle Rolle konzentrieren. Der Klerus hatte bereits während der Revolution zu Besonnenheit aufgerufen und ein Ende der Proteste gefordert. Nachdem das koptische Kirchenoberhaupt nach dem Maspero-Massaker Kritik am Staat vermissen ließ, hatte der Klerus bei vielen jungen christlichen Aktivisten jeglichen Kredit verspielt. Außerhalb klerikaler Hierarchien agierende Gruppen wie die MYU sind seither im Aufwind.
Zuletzt fiel die MYU zudem mit ihren breit gefächerten Aktivitäten auf. Ihre Teilnahme am Protest gegen den Staatsbesuch der US-Außenministerin Hillary Clinton in Kairo Anfang Juli kritisierte zwar vordergründig die westliche Unterstützung Mursis und der Muslimbrüder, forderte jedoch auch eine von Washington unabhängige Außenpolitik Ägyptens. Die MYU nahm auch an den Protesten vor der US-Botschaft in Garden City im September gegen das antiislamische Schmähvideo „Innocence of Muslims“ teil. Heftig kritisiert wurde die MYU jedoch kurz vor dem Jahrestag von Maspero, als eine Vereinigung von Hinterbliebenen des Massakers der Gruppe vorwarf, Gelder einzutreiben und diese nicht an die Familien weiterzugeben. MYU-Verantwortliche distanzierten sich von den Vorwürfen.
„Maspero“ steht für die koptische Minderheit am Nil inzwischen symbolisch für die zunehmende Diskriminierung und Einschüchterung von staatlicher Seite. Seit rund zehn Jahren häuften sich teils gewaltsame Übergriffe insbesondere seitens der salafistischen Minderheit gegenüber koptischen Kirchen, Geschäften und Wohnungen, aber eben auch des Staates. Doch seit der Revolution 2011 und dem Sturz Hosni Mubaraks bekamen derlei Übergriffe eine neue Qualität und Quantität, auch da staatliche Institutionen zunehmend in sektiererische Auseinandersetzungen in unterschiedlicher Art und Weise involviert waren. Oft beschränkt sich die staatliche Verantwortung oder Verwicklung in derlei Auseinandersetzungen auf schlichtes Nicht-Handeln und Wegschauen. Auch nutzen staatliche Stellen immer wieder die gesetzlichen Restriktionen zum Neubau und Ausbau von Kirchen, um die jeweiligen lokalen oder regionalen salafistischen Gemeinden zufrieden und ruhig zustellen.
Die säkular orientierte ägyptische Bevölkerung und insbesondere die koptische Minderheit beäugen Präsident Mursi scharf und befürchten unter dem wachsenden Einfluss der Muslimbruderschaft und ihrem politischen Arm, der Freedom and Justice Party (FJP), eine forcierte Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Vor allem Kopten klagen über die Erosion des zivilen Charakters des Staates. Trotz Mursis Ankündigungen die Kopten aktiv ins politische Geschehen einzubinden, habe er nur geredet, passiert sei nichts, sagt ein muslimischer Demonstrant. In der neuen Regierung sitzt zudem nur eine koptische Vertreterin, Christen sind damit Blasphemie schlechter repräsentiert als vor der Revolution 2011. Bei den sektiererischen Auseinandersetzungen im Sommer in Dashur südlich von Kairo, den jüngsten Übergriffen gegen Kopten in Rafah im Nord-Sinai oder bei den vermehrt auftretenden Zivilklagen gegen Christen – oft aufgrund angeblicher Blasphemie – spielen staatliche Stellenauch oft eine eher unrühmliche Rolle, vor allem seit dem Machtzuwachs der Muslimbrüder. Die Schwelle Klagen wegen Blasphemie gegen Christen einzureichen scheint seither deutlich gesunken zu sein.
Mina Magdy, Sprecher der MYU und Mitglied ihres Politkomitees, rezitiert bezüglich Befürchtungen zahlreicher Christen zu Religionsfreiheit und gesellschaftlichen Veränderungen unter Mursi ein altes ägyptisches Sprichwort: „Wenn du eine Schlange in dein Haus lässt, wundere dich nicht wenn sie dich beißt. Sie wird ihre Natur nicht ändern.“ Er betont, das von vielen kritisierte Wahlverhalten der Kopten entbehre angesichts der politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen der Muslimbrüder nicht einer gewissen Logik. Gewiss wolle auch die koptische Minderheit keinen Vertreter der alten korrupten und in die Aufstachelung sektiererischer Gewalt involvierten Kader der Mubarak-Ära im höchsten Staatsamt sehen, dennoch erschien die Wahl des Militär- nahen Kandidaten Ahmed Shafiq, dem letzten Ministerpräsidenten unter Mubarak, als das geringer Übel. Shafiq habe im Gegensatz zum Drittplatzierten Nasseristen Hamdeen Sabahi liberales Gedankengut – Rechte von Minderheiten und Frauen und Betonung des zivilen Charakters des ägyptischen Staates – betont.
Interessanterweise beschreibt Magdy die Muslimbrüder und ihren politischen Kopf als elementare Teile des alten Regimes. Shafiq stellte demnach gewissermaßen das „liberale“ und Mohamed Mursi das „islamistische Gesicht des alten Regimes dar.“ Gewiss flogen die Muslimbrüder bei den letzten Parlamentswahlen unter Mubaraks Regentschaft wieder aus der Legislative, nach dem sie 2005 mit 88 unabhängigen Kandidaten erstmals in die Volksvertretung eingezogen waren, dennoch waren Mubaraks Parteiapparat und die Bruderschaft auf dem Weg eine Art Koexistenz auszuloten. Der Machtkampf zwischen Mursi und den Generälen im Sommer 2012 stellt vor diesem Hintergrund eine Art Fortsetzung der Integration der Muslimbrüder in das politische Machtgefüge Ägyptens dar.
Verbal betonen vor allem Regierungsmitglieder und Präsident Mursi den Willen insbesondere die koptische Minderheit in das politische Alltagsgeschäft integrieren zu wollen und die Religionsfreiheit zu achten. Dennoch besetzen die Konservativen um die Bruderschaft und ihren politischen Arm FJP strategische Positionen im Staatsapparat mit den eigenen Leuten – logischerweise, denn welche an die Macht kommenden Partei tut dies nicht. Ob Ängste koptischer Christen und säkularer Ägypter bezogen auf eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft berechtigt sind, bleibt abzuwarten. Fakt ist jedoch eine Häufung sektiererischer Gewalt am Nil seit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011.
© Sofian Philip Naceur 2012