Die Protestwelle in Ägypten ebbt nicht ab. Seit sich vor einer Woche tausende Menschen im Stadtzentrum Kairos versammelten, um der Opfer des Mohamed-Mahmoud Massakers vom 19. November 2011 zu gedenken, ist der Tahrir Platz im Herzen der Stadt erneuet Schauplatz von nicht enden wollenden Protesten. Nachdem Angehörige der 47 Toten des Massakers von 2011 Blumen niederlegten und gemeinsam mit Vertretern liberaler, linker und säkularer Gruppen der Opfer gedachten, begannen am Abend Jugendliche die Sicherheitskräfte mit Steinen und Molotowcocktails zu bewerfen. Die gewaltsamen Ausschreitungen in Downtown und Garden City setzten sich seither ununterbrochen fort. Nach Verkündung eines präsidialen Dekrets am Donnerstag, welches Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi weitreichende Kontrolle über den Justizapparat des Landes verschaffte und eine absolute politische Machtkonzentration in der Hand des Präsidenten bedeutet, riefen zahlreiche Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen für Freitag zu einer Massendemonstration auf. In mehreren Städten Ägyptens gab es Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Muslimbrüder, der säkularen Opposition und dem Militär- und Polizeiapparat. In Kairo nahmen die Ausschreitungen seit Freitag stark zu, viele interpretierten das präsidiale Dekret als Staatsstreich und gezielte Provokation der Demonstranten auf dem Tahrir. Kairo erlebt derzeit die heftigste Protestwelle seit 2011.
Ägyptens Präsident reißt Kontrolle der Justiz an sich, Proteste in Kairo werden fortgesetzt
Straßenschlachten Mohamed-Mahmoud-Street, 22.11.2012 |
Oppositionsgruppen schlossen sich am Samstag zur „Nationalen Front“ zusammen und betonten erst mit Regierung und Staatspräsident in Dialog treten zu wollen, wenn die Dekrete zurückgenommen würden. Das Bündnis bringt das Gros liberaler, linker und säkularer Oppositionsgruppen an einen Tisch, unter anderem die Sozialdemokratische Partei, die Sozialistische Volksallianz, nasseristische Parteien sowie mehrere Gewerkschaften und Jugendgruppen. Auch die Partei von Hamdeen Sabahi, dem Drittplatzierten bei den Präsidentschaftswahlen, sowie die wirtschaftsliberalen Parteien des ehemaligen Vorsitzenden der Arabischen Liga Amr Moussa sowie des ehemaligen Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde Mohamed El Baradei haben sich der Front angeschlossen. Nachdem am Sonntag bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Gegnern und Anhängern in Damanhour im Nildelta ein 15 jähriges Mitglied der Bruderschaft getötet und 26 verletzt wurde, rief die Front erneut demonstrativ zur Gewaltlosigkeit auf.
Ausgebranntes Büro von Al Jazeera, Tahrir Square |
Bereits zu Beginn der Proteste in Kairo gab es zahlreiche schwer verletzte Demonstranten. Gaber Saleh, ein Mitglied der liberalen Jugendbewegung des 6. April, lag nach Schussverletzungen durch Gummigeschoße in Kopf und Nacken mehrere Tage im Koma, bevor seine Familie seinen Tod bestätigte. Gaber soll heute beigesetzt werden, ein Trauermarsch in der Mohamed-Mahmoud-Straße ist für heute Nachmittag geplant. Die Zahl der Verletzten allein in Kairo geht mittlerweile in die Hunderte. Unbekannte stürmten am Dienstag das Büro des ägyptischen Ablegers von Al Jazeera am Tahrir und legten Feuer, das Büro brannte komplett aus. Die Heftigkeit der Ausschreitungen hat inzwischen eine regelrechte Dynamik entfacht. Der Tahrir ist mittlerweile komplett gesperrt (auf der einen Seite von Paramilitärs, auf der anderen Seite von Protestlern, die Neuankömmlinge nach Waffen durchsuchen) und zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen etablieren derzeit ein neues Protestcamp auf dem Platz. Kurz nach der Wahl Mursis zum Staatspräsident nutze die Staatsmacht eine Demonstration, um die verbliebenen Protestzelte auf dem Tahrir endlich los werden zu können. Mehrere Versuche der säkularen Opposition erneut ein Camp zu etablieren, wurden verhindert. Die Masse an friedlichen Demonstranten erreichte seit Freitag jedoch ein Niveau, dass es dem Staat schwer macht den Platz zu räumen. Die Central Security Forces (CSF), eine dem Innenministerium unterstellte paramilitärische Prätorianergarde, setzte vor allem seit Mittwoch massiv Tränengasgranaten und Gummigeschosse gegen Demonstranten ein und begann zeitweise in die Menge zu feuern.
Qasr Al-Aini-Street, 24.11.2012, Kairo |
Der Wind steht jedoch günstig für die Protestlern. Während die CSF rund um das seit der Revolution 2011 eingemauerte Areal des Parlamentes sowie des Innenministerium und Hundertschaften um die nahe gelegene US-Botschaft postiert sind, treibt der Wind des nördlich gelegenen Tahrir Platzes das Tränengas seit Tagen konsequent in Richtung Parlament und Sicherheitskräfte – Glück für die friedlichen Protestler auf dem Platz. In der Nacht von Samstag auf Sonntag griffen die CSF zudem zu einem beliebten Mittel von Ägyptens Sicherheitskräften und mauerten die Qasr El-Aini-Street schlicht mit Betonblöcken zu. Die Straße ist eine Hauptverkehrsachse für den Verkehr auf der östlichen Nilseite und unersetzbar für den Süd-Nord-Verkehr. Die Straße führe vom Tahrir südlich zum Hauptportal des Parlamentes und war seit Montag neben der Mohamed-Mahmoud-Street der Hauptschauplatz der Ausschreitungen. Bereits während der Revolution blockierten die Sicherheitskräfte schlicht ganze Straßen mit Mauern aus Betonblöcken, die bis heute rund um Innenministerium und Parlament zu bewundern sind. Nach den Ausschreitungen vor der US-Botschaft im Sommer mauerten die CSF auch die US-Vertretung schlicht zu und blockierte eine der Hauptstraßen, die zum Gebäude führen. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstranten und den CSF gingen jedoch auch am Sonntag weiter und verlagerten sich schlicht zum Simon-Bolivar Square in Garden City.
Horreyya-French-School, Mohamed-Mahmoud-Street |
Währenddessen beruhigen sich inzwischen die Ausschreitungen in der Mohamed-Mahmoud-Street. Hier hatten die Ausschreitungen vor einer Woche ihren Ausgang genommen. CSF-Kräfte hatten sich zügig in der Horreyya-French-School und einem Seitenarm der American University in Cairo (AUC) verschanzt und reagierten auf den tagelangen Hagel an Steinen und schlecht gebauten Molotowcocktails ihrerseits mit Steinwürfen und Tränengasgranaten. Die gesamte Front der Schule und des AUC-Traktes sind mittlerweile stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Revolution auf Kairos Straßen hingegen ist wiedererwacht, nachdem sich das Land seit der Wahl Mursis zum Präsidenten gesellschaftspolitisch zunehmend polarisiert hatte.Kairo erlebte an diesem Tag die wohl zulaufstärkste Demonstration des Jahres. Während einzelne Gruppen bereits am Freitag zu erneuten Protesten für Dienstag aufriefen, bekräftigen Vertreter der Front am Samstag die Notwendigkeit auf der Straße Präsenz zu zeigen, nachdem auch die Anhänger Präsident Mursis zu Kundgebungen aufgerufen hatten. Am Freitag versammelten sich Hunderte vor dem Präsidentenpalast in Heliopolis im Osten Kairos und drückten ihre Solidarität mit dem Präsidenten aus. Bei zahlreichen Demonstrationen im Nildelta kam es teils zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In Alexandria ging das Büro der Freedom and Justice Party (FJP), dem politischen Arm der Muslimbrüder, in Flammen auf, nachdem sich Gegner des Präsidenten Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften geliefert hatten. Mursi bekräftige, seine Schritte seinen notwendig geworden, da das Justizsystem immer noch von alten Kadern des gestürzten Mubarak-Regimes durchsetzt sei. Das Land benötige zudem „Sicherheit und Stabilität“, um die Errungenschaften der Revolution zu schützen. Die Entlassung des Generalstaatsanwalts rechtfertigte er mit der Tatsache, dieser sei schließlich 2006 noch von Mubarak eingesetzt worden.
Tränengaseinsatz der CSF, Mohamed-Mahmoud-Street |
Die Muslimbruderschaft, ihr politischer Arm und Staatspräsident Mursi, lassen insbesondere zuletzt keine Gelegenheit aus, um ihre ideologische Nähe zur ägyptischen Revolution von 2011 zu betonen. Zwar rief die Bruderschaft erst spät ihre Mitglieder dazu auf die Revolution zu unterstützen, dennoch profitierte keine politische oder gesellschaftliche Kraft derart vom Sturz des langjährigen Autokraten Hosni Mubarak. Ein Blick auf Machtstrukturen vor der Revolution sowie auf die wirtschaftspolitische Agenda der Brüder lässt jedoch starke Zweifel am revolutionären Charakter von Bruderschaft und FJP aufkommen. Die Islamisten scheinen vielmehr im klassischen machiavellistischen Sinne schlicht an die Macht zu wollen. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtes vom Juni 2012 die Parlamentswahlen für ungültig zu erklären, fiel Mursi bereits bei seinem Amtsantritt Ende Juni neben der exekutiven auch die legislative Gewalt zu. Mit dem Coup vom Donnerstag vereinigte der Präsident nun auch die richterliche Gewalt allein auf sein Amt.
Tahrir Square, 24.11.2012 |
Ausgestattet mit dieser Machtfülle befürchtet viele ein Abgleiten der post-revolutionären Stabilisierung des Landes in neuerliche autokratische Gefilde. Durch das Dekret erlangt die von der FJP und den Salafisten dominierte verfassungsgebende Versammlung Immunität, mehrere Gerichte beschäftigen sich zuletzt mit der Legitimität der Versammlung. Mursi und seine politischen Verbündeten mussten befürchten ihre derzeitige Deutungshoheit über die verfassungsgebende Versammlung zu verlieren. Das Ansehen der Versammlung ist jedoch stark angekratzt. Frauen, Säkulare und Christen verließen in mehreren Wellen demonstrativ die Versammlung, vor allem ob der Vormachtstellung der Konservativen. Währenddessen trat Samir Morcos, einer von drei koptischen Christen im 17köpfigen Beraterstab des Staatspräsidenten, mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurück und bezeichnete die präsidialen Dekrete als „undemokratisch.“ Ob Mursi sein Manöver aufrechterhalten kann ist ungewiss. Mehrere Richtergremien und die einflussreiche unabhängige Juristenvereinigung riefen zu einem Streik im Gerichtswesen auf. Die ersten lokalen Streiks wurden bereits gestern bestätigt. Mursi wird zweifelsohne weiterhin innenpolitisch starken Gegenwind verspüren, fraglich bleibt wie der Westen auf weitere machtpolitisch motivierte Manöver des Präsidenten reagieren wird. Nach dem von Kairo vermittelten Waffenstillstandsabkommen zwischen der palästinensischen Hamas und Israel war Mursi für seine Verhandlungsführung vor allem von Washington und der EU gelobt worden. Dies scheint der Präsident nun auszunutzen, um sich weitreichende Verfügungsgewalt im Staatsapparat zu verschaffen. Ohne weitreichende Zugeständnisse an die Opposition wird er diese Strategie jedoch nicht mehr allzu lange durchhalten können, die vergangenen acht Tagen dürften Beweis dafür sein, dass Ägyptens linke, liberale und säkulare Opposition alles daran setzten wird, ein autokratisches Abgleiten des Staates zu verhindern.
© Sofian Philip Naceur 2012