„Keine Macht steht über der Macht des Volkes“, sagte Ägyptens frisch gewählter Staatspräsident Mohamed Mursi bei seiner inoffiziellen Antrittsrede auf dem Tahrir-Platz in Kairo vor einem Jahr. Er wolle der „Präsident aller Ägypter“ sein. Ägyptens Bevölkerung zieht an diesem Wochenende Bilanz und diese fällt düster aus. Die Muslimbruderschaft, aus deren Reihen Mursi entstammt, und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), setzen innenpolitisch verstärkt auf Konfrontation. Aufrufe zur Kooperation oder nationalen Einheit werden von der Opposition strikt zurückgewiesen, da die FJP die politische Macht schlichtweg monopolisiert hat.
Die ägyptische Wirtschaft liegt am Boden, die Sicherheitskräfte gehen wie schon unter dem alten Regime mit Gewalt gegen Demonstrationen und Streiks vor, die Meinungsfreiheit wird beschnitten und Journalisten und einfache Aktivisten wegen „Präsidentenbeleidigung“ vor Gericht gezerrt. Mursis Amtszeit wurde ununterbrochen begleitet von Arbeitskämpfen und Protesten gegen seine kontroverse Politik. Nachdem die Regierung im Herbst im Eiltempo eine neue Verfassung schreiben und per Referendum verabschieden ließ, bekamen die Proteste gegen Regierung und Präsident neuen Zulauf. Viele befürchteten die FJP werde die Verfassung missbrauchen, um die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben und Kritiker mundtot zu machen
Zwar wurde der Ausnahmezustand kurz nach Mursis Amtsantritt aufgehoben, dennoch werden auf Grundlage der Verfassung vermehrt Demonstranten in Untersuchungshaft gesteckt, Oppositionelle vor Gericht gestellt und Anklagen wegen Blasphemie erhoben – oft mit rechtkräftigen Verurteilungen. Die christliche Minderheit, die rund zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist auffallend oft von derartigen Anklagen betroffen. Ein Menschenrechtsanwalt hebt hervor, dass es schon vorher schwer oder gar unmöglich war Angehörige von Armee oder Polizei für Menschenrechtsvergehen zu belangen, die neue Verfassung verfestige die Straffreiheit für die Sicherheitsorgane. Mursis Amtsübernahme, die in einen Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und Militärs mündete, in dem offenbar ein Modus zur Machtteilung ausgehandelt wurde, hat am Umgang der Sicherheitskräfte mit friedlichen Protesten bisher wenig geändert. Immer wieder sterben Demonstranten durch Gummigeschosse, Schrotmunition oder den Einsatz von Tränengas.
Im November haben sich 20 Oppositionsparteien, unter anderem die wirtschaftsliberalen Parteien Amr Moussas und Mohamed El-Baradeis und die staatssozialistische Partei Hamdeen Sabahis, zu einer Allianz zusammengeschlossen, der Nationalen Rettungsfront. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass das Bündnis bei den nächsten Wahlen eine gemeinsame Liste aufstellen wird, doch hat es die Kooperation unter Oppositionsgruppen verbessert. Nach einigem Zögern ist die Front inzwischen der Rebell-Kampagne beigetreten. Die im April von unabhängigen Aktivisten ins Leben gerufene Unterschriftenkampagne fordert den Rücktritt Präsident Mursis und vorzeitige Neuwahlen und hat nach eigenen Angaben bisher über 15 Millionen Unterschriften gesammelt. Mursi bezeichnete die Forderungen der Kampagne und führender Oppositionspolitiker zurückzutreten jüngst als „absurd und illegal“. Angesichts der für den morgigen 30. Juni, den Jahrestag von Mursis Amtsübernahme, angekündigten Massenprotesten, zu denen neben der Front zahlreiche Jugendorganisationen und Parteien aufrufen, meldete sich Verteidigungsminister Abdel Fattah El-Sisi zu Wort. Die Armee werde den „Willen des Volkes“ achten und hart gegen jede Form der Gewalt vorgehen.
Die Wortmeldung kann als Drohung verstanden werden. Die Armee ist an einer Aufrechterhaltung des Status Quo interessiert und muss mit Mursi an der Staatsspitze gewiss nicht um ihre Privilegien fürchten. Seit rund zehn Tagen wärmen sich Gegner und Anhänger des Präsidenten für den 30. Juni auf. Vor einer Woche versammelten sich zehntausende Unterstützer Mursis im Osten Kairos. Die Demonstration blieb friedlich, während es in mehreren Städten des Landes bereits Zusammenstöße gab. Am Mittwoch soll bei Protesten zwischen Gegnern und Anhängern des umstrittenen Staatschefs in Mansoura im Nil-Delta ein Demonstrant gestorben sein.
© Sofian Philip Naceur 2013