Während die Staatskrise in Ägypten auf den Straßen eskaliert, versucht die Staatsführung das Land politisch zu stabilisieren. Der von der Armee eingesetzte Übergangspräsident Adly Mansour kündigte an innerhalb von sechs Monaten Parlamentswahlen durchführen zu wollen und noch vorher die Verfassung überarbeiten und verabschieden zu wollen. Das Militär hatte vor einer Woche Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi abgesetzt und die umstrittene islamistisch gefärbte Verfassung, die erst im Herbst per Referendum angenommen wurde, außer Kraft gesetzt. Mansours Initiative den politischen Übergangsprozess so schnell wie möglich in geregelte Bahnen zu lenken kam nur wenige Stunden, nachdem am Montagmorgen bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Mursis mindestens 51 Menschen getötet wurden. Die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), sprechen von einem Massaker und einem Angriff der Militärs auf friedliche Proteste. Die Armee behauptet die Demonstranten hätten versucht das Gelände der Republikanischen Garde zu stürmen. Nachdem die Armee seit Mursis Absetzung hart gegen die FJP vorgeht und deren Führungskader inhaftiert, zogen ihre Anhänger auf die Straße und fordern die Widereinsetzung des gestürzten Präsidenten.
Während die Muslimbrüder, die FJP und unzählige internationale Zeitungen und Fernsehkanäle die Ereignisse der letzten Woche in Ägypten als Staatsstreich bezeichnen, wehren sich viele Menschen am Nil gegen diese vereinfachte Interpretation der Ereignisse. Aus Perspektive der Bruderschaft war es ein Putsch, da die Organisation über Nacht ihres politischen Einflusses auf Ägyptens Institutionen beraubt wurde. Doch ist der Begriff „Militärputsch“ für die Machtübernahme der Armee irreführend und wird den tatsächlichen Veränderungen an der Staatspitze Ägyptens nicht gerecht.
Die ägyptische Armee ist faktisch seit dem Militärputsch 1952 ununterbrochen direkt oder indirekt an der politischen Macht in Ägypten beteiligt. Alle Vorgänger Mursis an der Staatsspitze des Landes seit 1952 waren ranghohe Vertreter der Streitkräfte. Der durch Ägyptens Revolution 2011 gestürzte Präsident Hosni Mubarak war vor seiner Amtsübernahme 1981 Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Nach dessen Sturz von der Staatsspitze verlor Mubaraks Nationaldemokratische Partei (NDP) die Unterstützung der Armee. Die NDP als ziviles Aushängeschild der Staatsklasse war abgewirtschaftet und wurde von den Militärs fallengelassen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 entschied sich die Bevölkerung gegen Ahmed Shafiq, Mubaraks ehemaligen Außenminister, NDP-Mitglied und Favorit der Generäle für das Präsidentenamt, und wählte den Muslimbruder Mohamed Mursi ins höchste zivile Staatsamt. Doch sicherte sich die Armee auch nach seiner Amtsübernahme im Juni 2012 ihren Einfluss auf die Regierung. Die Armee stellte erneut den Verteidigungsminister.
Mursi lieferte sich in seinen ersten Monaten einen erbitterten Machtkampf mit den Generälen um politischen Einfluss. Die Art und Weise wie der Präsident nach und nach Schlüsselposten im Staats- und Sicherheitsapparat neu besetzte, legt die Vermutung nahe Militär und FJP hätten sich hinter den Kulissen auf eine Machtteilung verständigt. Bei der Neubesetzung der Gouverneursposten hielten sich FJP-Getreue und Vertreter aus dem Sicherheitsapparat stets die Waage. Mit seiner verfehlten Wirtschaftspolitik brachte Mursi jedoch schon nach einem Jahr im Amt die Bevölkerung gegen sich auf. Die Massenproteste der Opposition am 30. Juni waren eine Machtdemonstration der Menschen und haben die Armee gezwungen Mursi abzusetzen und den politischen Einfluss der Muslimbrüder zurechtzustutzen. Die Armee hat zwar den Präsidenten abgesetzt und sich ins politisch Geschehen eingemischt, aber gewiss keinen Putsch durchgeführt. Der mächtigste Akteur innerhalb eines Regimes kann sich schließlich schlecht an die Macht putschen, wenn er bereits an der Macht ist.
Unterdessen versucht die Militärführung eine neue Regierung zu bilden. Sowohl das liberale Lager als auch die Salafisten, die hoffen aus der Krise der FJP politisches Kapital schlagen zu können, sind in die Gespräche eingebunden und sollen stabile Verhältnisse schaffen. Die Armee will sich möglichst rasch aus der ersten Reihe des politischen Geschehens zurückziehen, aber dabei den Status Quo absichern, der ihnen weitreichende wirtschaftliche Privilegien garantiert. Auch wenn das liberale Lager um Mohamed El-Baradei, der kurzweilig als neuer Premier im Gespräch war, auf dem Land nur über geringen Rückhalt verfügt, ist eine von den Liberalen dominierte Übergangsregierung zu erwarten.
© Sofian Philip Naceur 2013