Ägypten kommt nicht zur Ruhe. Die entmachteten Muslimbrüder demonstrieren weiter gegen die Absetzung Mohamed Mursis durch die Armee und harren in ihren Protestcamps vor der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City und am Nahda-Platz an der Universität von Kairo in Giza aus. Die Übergangsregierung ermächtige das Innenministerium die Demonstrationen zu räumen. Die Regierung bezeichnet die Sitzblockaden der Bruderschaft als „Gefahr für die nationale Sicherheit“, legt jedoch mittlerweile etwas mehr Fingerspitzengefühl an den Tag und mäßigt ihren Tonfall nachdem das gewaltsame Vorgehen von Polizei und Armee gegen Anhänger der Bruderschaft in Nasr City heftig kritisiert wurde. Erst letzte Woche starben mindestens 80 Menschen nachdem Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Proteste einschritten (erschienen in Junge Welt am 5.8.2013).
Nach internationalen Konsultationen und Appellen von Menschenrechtsorganisationen den Konflikt gewaltfrei zu lösen rücken Innenministerium und Armee mittlerweile davon ab die Camps mit Gewalt zu stürmen, zumindest vorerst. Nach wie vor kreisen regelmäßig Militärhubschrauber über Nasr City und dem Nahda-Platz, die Armee hat Panzer rund um die Universität von Kairo postiert und Straßensperren errichtet. Ägyptens Sicherheitsapparat zeigt Präsenz und kündigte an den Zugang zu den Camps blockieren zu wollen. Innenminister Mohamed Ibrahim versprach freies Geleit für Diejenigen, die die Camps verlassen wollen. Dennoch ist es weiterhin möglich ungehindert Zugang zum Nahda-Platz zu bekommen.
„Die Angst vor Repression in uns ist nach der Revolution 2011 gestorben. Wir haben keine Furcht mehr vor dem Regime und werden bleiben bis unsere Forderungen erfüllt sind“ sagt Saad Mohamed, Student der Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Helwan und Anhänger der Muslimbrüder am Nahda-Platz. „Nach der Ankündigung der Regierung die Proteste zu räumen, sind noch mehr Menschen hierhergekommen, um gegen den Militärputsch zu protestieren.“ Es verweilen nach wie vor einige tausend Menschen rund um den Nahda-Platz, nach der Rabaa Al-Adawija das zweitgrößte Protestcamp der Bruderschaft. Barrikaden wurden errichtet und Sandsäcke aufgetürmt. Personenkontrollen sollen die Sicherheit auf dem Platz gewährleisten und verhindern, dass „vom Regime bezahlte Schläger“ das Camp ausspionieren.
Überall hängen Bilder des abgesetzten Mohamed Mursi und Banner mit der Aufschrift „Pro-Demokratie“ und „Mursi ist der legitime Präsident Ägyptens“. Das Camp ist eine improvisierte Zeltstadt. Es gibt eine Küche, ein Notfall-Lazarett und zahlreiche Verkaufsstände für Getränke und Obst. Doch bereiten sich die Demonstranten bereits auf die Erstürmung des Camps vor. Eine Gruppe junger Frauen bastelt aus aufgeschnittenen Plastikflaschen, Pappbechern und Gummibändern selbstgemachte Gasmasken, um sich gegen das von Polizei und Militär benutzte Tränengas zu schützen. Hunderte liegen bereits auf Lager. Saad betont man bereite sich nur defensiv auf die Erstürmung vor, die Anschuldigungen man habe Waffen versteckt seien eine Lüge – eine schlecht nachzuprüfende allerdings. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert Aufklärung über die Foltervorwürfe gegen die Pro-Mursi-Demonstranten, die Anhänger des gegnerischen politischen Lagers am Nahda-Platz festgehalten und gefoltert haben sollen. Zugleich betont die Organisation die Anschuldigungen dürften nicht für eine kollektive Bestrafung der Demonstranten missbraucht werden.
Die Muslimbrüder laden inzwischen offensiv Journalisten ein und führen sie herum, um die Vorwürfe zu entkräften und ihr Image aufzupolieren. Nach dem Sturz Mursis waren Anhänger der Bruderschaft noch randalierend und bewaffnet durch die Straßen gezogen. Seither ist die Bruderschaft bemüht ihre Friedfertigkeit zu demonstrieren. Der Sprecher der Muslimbrüder Ahmed Aref sagte die Proteste in Rabaa und Nahda seien friedliche und legitime Meinungsäußerung, es gäbe keine Waffen. „Wir zeigen allen, dass wir hier friedlich und rechtmäßig demonstrieren. Nein zum Polizeistaat, nein zur Militärherrschaft“, sagt Hela Mohedin, eine Gegnerin der Militärintervention. „Seit dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 sind wir sechs Mal zur Wahl gegangen und das soll alles umsonst gewesen sein?“ Sie ist unverschleiert und hat bei den Präsidentschaftswahlen für einen liberalen Kandidaten gestimmt. Mursi ist ihr zuwider, aber sie fürchtet die Rückkehr des alten Regimes. Menschen wie Hela sind hier unter all den bärtigen Männern die Minderheit, doch erwähnt die Bruderschaft immer wieder ausdrücklich die Anwesenheit von Menschen, die nicht zur Bruderschaft gehören.
Unterdessen haben offenbar Geheimverhandlungen zwischen Muslimbrüdern und der Übergangsregierung begonnen. Noch am Freitag dementierte Mohamed Soudan, Sekretär für Außenbeziehungen des Büros der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit in Alexandria, dem politischen Arm der Bruderschaft, dass Muslimbruderschaft oder FJP direkte Kontakte mit der neuen Machtelite Ägyptens haben. Diese Verhandlungen sind jedoch notwendig, um doch noch eine politische Lösung der festgefahrenen und aufgeheizten Lage in Ägypten zu ermöglichen und weiteres Blutvergießen zu verhindern.
© Sofian Philip Naceur 2013