Ägyptens Muslimbrüder diskutieren strategische Fehler, setzen konsequent auf eine Wiedereinsetzung Mohamed Mursis als Staatspräsident und forcieren die politische Polarisierung des Landes. Ein Gespräch mit Gehad El-Haddad, offizieller Sprecher der Muslimbruderschaft (erschienen in Junge Welt vom 14.8.2013).
Die ägyptische Regierung will die Proteste der Muslimbrüder auflösen und die Versorgung ihrer Zeltstadt blockieren lassen. Wie gehen Sie damit um?
El-Haddad: Überleben ist unser Schicksal. Die Regierung hat uns schon einmal den Strom abgestellt, heute haben wir Generatoren.
Gibt es in der Führungsebene der Muslimbrüder Diskussionen über strategische Fehler des vergangenen Jahres?
El-Haddad: Natürlich. Wir haben uns auf den pragmatischen politischen Prozeß gestützt und nicht auf die revolutionäre Bewegung. Wir haben den Gang durch die Institutionen gewählt, was uns von der revolutionären Bewegung auf der Straße entfernt hat. Das war ein Fehler.
Was hätten Sie stattdessen machen sollen?
El-Haddad: Wir hätten beide Seiten in die richtige Richtung schieben sollen. Nur gemeinsam können sie sich dem alten Regime, dem tiefen Staat, entgegenstellen und ihn bezwingen. Wir haben heute erneut eine revolutionäre Bewegung auf der Straße, auf einem neuen Platz. Selbst wenn der vom Militär weggeputschte Mohammed Mursi als Präsident wieder eingesetzt werden sollte, würden wir unsere Proteste nicht auflösen. Wir müssen den Präsidenten konsequent unter Druck setzen und dazu bringen, den Staat von Grund auf zu reformieren.Aus heutiger Sicht war es eine Fehleinschätzung, daß wir dem politischen Fahrplan gefolgt sind, erst Wahlen abzuhalten und dann das Land zu stabilisieren. Jetzt geht es aber um eine andere Frage, nämlich: Bist du für oder gegen Mursi? Er ist immerhin der gewählte Präsident – egal, wie man seine Leistung im Amt beurteilt. Wir fordern jedenfalls, daß er wieder eingesetzt wird und daß die Verfassung wieder in Kraft tritt. Wer diese Posisition nicht teilt, soll nicht auf unsere Proteste kommen.
Ihre Forderung klingt aber ein wenig unrealistisch…
El-Haddad: Während der Revolution im jahre 2011 haben viele gesagt, es sei unrealistisch einen Diktator wie Hosni Mubarak zu stürzen. Aber er ist dennoch gestürzt worden! Heute steht in Ägypten jeder vor der Entscheidung: Das alte Regime oder die Demokratie? Bist du für oder gegen den Militärputsch? Demokratie bedeutet, die Entscheidungen der Mehrheit zu akzeptieren. Es gibt in Ägypten nur zwei relevante politische Akteure – das alte Regime und wir Muslimbrüder. Bevor wir keine stabilen politischen Verhältnisse haben, die es kleineren politischen Bewegungen erlaubt, starke Parteien aufzubauen, wird es bei dem Kampf zwischen diesen beiden Blöcken bleiben.
Viele Oppositionelle und Revolutionäre lehnen dieses vereinfachte schwarz-weiße Bild ab. Unter Mursi haben wir immerhin die selbe Polizeigewalt erlebt wie unter Mubarak. Verteidigungsminister Al-Sisi wurde sogar noch von Mursi ernannt.
El-Haddad: Mursi hat die besten Leute ausgewählt, wir brauchten jemanden für diesen Posten und es stand niemand anderes zur Verfügung. Letztlich hatte aber niemand von uns die politische Erfahrung, ein Land wie Ägypten zu führen – die Kader des alten Regimes allerdings kannten sich darin aus. In dem einen Jahr der Präsidentschaft Mursis haben wir daher vieles systematisch ausprobieren müssen.
In einem Interview mit einer ägyptischen Zeitung sagen Sie, die Armee spiele keine »politische Rolle«.
El-Haddad: Die Armee ist ein Angestellter des Staates, sie hat dem Oberbefehlshaber zu folgen und das ist nun mal der Präsident. Sie hat nicht das Recht auf eigene politische Positionen – aber weil sie bewaffnet ist, meint sie, sich einmischen zu dürfen. Sie wird aber wieder zurück in die Kasernen gehen, dorthin, wo sie hingehört.
Klingt gut, die Wirklichkeit ist aber ein wenig anders: Hat die Armee nicht unter Beweis gestellt, daß sie ohne weiteres Präsident und Regierung absetzen kann?
El-Haddad: Wenn Millionen auf die Straße gehen, können und werden sie es nicht noch einmal tun. Die Streitkräfte müßten Millionen Menschen töten – wenn sie das aber tun, werden wir nicht mehr diese gewaltfreie Anti-Putsch-Bewegung haben, es wird zu einer neuen Revolution kommen. Je mehr Gewalt die Armee ausübt, desto instabiler wird das Land werden. Man schafft keine Stabilität durch Militärputsche, vor allem wenn die Menschen schon einmal die Freiheit erlebt haben.
© Sofian Philip Naceur 2013