Nach dem Verbot der Muslimbruderschaft und aller ihrer Ableger in einem Eilverfahren durch ein Gericht in Ägyptens Hauptstadt Kairo wird die seit 1928 bestehende Organisation immer weiter in die Ecke gedrängt. Zudem verfügte der Richter des Verfahrens Vermögen und Immobilien der Bruderschaft durch die Regierung konfiszieren zu lassen. Das Verbot geht auf eine Klage der nasseristisch-staatssozialistischen Tagammu-Partei zurück, die der Organisation vorwirft die nationale Sicherheit zu gefährden und zu Gewalt in Ägypten aufgerufen zu haben. Die Tagammu-Partei ist Mitglied der Nationalen Rettungsfront (NSF), einem Bündnis liberaler, sozialdemokratischer und staatssozialistischer politischer Kräfte, die die Absetzung von Ägyptens im Sommer 2012 demokratisch gewählten Staatspräsidenten Mohamed Mursi durch die Armee unter Verteidigungsminister General Abdelfattah Al-Sisi unterstützt. Ägyptens Übergangsregierung von Premierminister Hazem El-Beblawi wird von NSF-Politikern dominiert, Islamisten sind im Kabinett unterrepräsentiert (erschienen in Junge Welt vom 25.9.2013).
Erst im März 2013 wurde die Muslimbruderschaft als zivile Organisation legalisiert, nachdem sie zuvor jahrzehntelang unter ungewissem Rechtsstatus operierte. Ein Vorwurf war zudem die Bruderschaft habe sich die Anerkennung als Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) erschlichen, sie sei keine zivile Organisation, sondern eine bewaffnete Miliz. Die Organisation steht damit vor einem politischen Scherbenhaufen. Noch vor drei Monaten stellte sie mit Mursi Ägyptens Staatspräsidenten und schien auf dem Höhepunkt ihrer politischen Macht. Nach Mursis Absetzung zogen ihre Anhänger tagelang randalierend durch die Straßen und opponieren seither gegen das ihrer Meinung nach „undemokratische und verfassungswidrige“ Einschreiten der Armee. Am 14. August ließ die Regierung zwei Protestcamps der Bruderschaft in Nasr City im Osten Kairos und in Giza gewaltsam räumen. Seither finden mehrfach pro Woche Demonstrationen der Bruderschaft statt, die immer wieder in gewaltsame Ausschreitungen mit den Sicherheitskräften münden.
Ein weiteres Verfahren, das vor dem Administrationsgericht in Kairo anhängig ist, wurde auf den 15. November vertagt. Grundlage dieses Ermittlungsverfahrens ist ein Bericht eines Beratergremiums, das der Regierung in juristischen Fragen zur Seite steht. Der Bericht empfiehlt die Auflösung der Bruderschaft, die Organisation sei mit „bewaffneten Milizen“ assoziiert. Rechtliche Grundlage der Empfehlung ist ein Gesetz aus dem Jahre 2002, dass die Formierung von NGO’s, die mit paramilitärischen Gruppierungen assoziiert sind, verbietet. Die Empfehlungen des Gremiums sind nicht bindend, haben aber dennoch Gewicht für die Entscheidungsfindung der Regierung, die das politische und juristische Kaltstellen der Bruderschaft unterstützt. Diese verkündete Einspruch gegen das Urteil einlegen zu wollen. Erfolgsaussichten für eine Revision des Urteils werden gemeinhin als relativ gering eingeschätzt.
Während die ägyptische Presse das Verbot einhellig begrüßt, werfen ausländische Medien eher die Frage auf, ob ein Verbot der Bruderschaft politisch sinnvoll ist und sogar zu einer gefährlichen Zuspitzung der innenpolitischen Krise am Nil beitragen könnte. Ohne Frage ist die Muslimbruderschaft eine zutiefst intransparente Organisation. Sowohl ihre Finanzen als auch Mitgliederzahlen und Organisationsstrukturen sind bis heute nebulös. Auch die Vorwürfe Mitglieder der Organisation hätten implizit oder teils auch explizit zu Gewalt aufgerufen, können nicht von der Hand gewiesen werden, dennoch sind die Muslimbruderschaft und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) Teil der politischen Realität Ägyptens und durch Verbot und Kriminalisierung werden sie sich nicht in Luft auflösen.
Nicht betroffen von dem Urteil ist der Status der FJP. Zwar wurden auch führende Mitglieder der Partei verhaftet und Klagen gegen sie eingereicht, aber sie kann weiterhin legal in Ägypten operieren. Mohamed Soudan, Generalsekretär für Auslandsbeziehungen der FJP in Alexandria, bezeichnet das Urteil vom Montag als „politisch motiviert“. Er betont die Muslimbruderschaft habe über 60 Jahre unter einem offiziellen Verbot arbeiten können. „Wir haben sehr tiefgehende Wurzeln in der ägyptischen Gesellschaft und ich glaube dieses Urteil wird uns mehr Popularität bescheren. Wir haben einen guten Ruf in der ägyptischen Bevölkerung“ sagt Soudan. Weiter betont er durchaus pragmatisch das Urteil könne „mehr Balance zwischen FJP und Mutterorganisation“ ermöglichen und das Bild des Staatsapparat und der Armee, die für den Sturz Mursis verantwortlich seien, „entstellen und deformieren“. In der Tat bleibt trotz des harten Vorgehens von Sicherheitsapparat und Übergangsregierung gegen die Bruderschaft die Hoffnung bestehen, dass der unangetastete Status der FJP zu einer Stärkung des politischen Flügels der Muslimbrüder beiträgt. Um eine politische Integration der Organisation kommt Ägyptens Regime nicht umhin, will es den post-revolutionären Prozess in ruhigere Bahnen lenken.
Die Bruderschaft hatte sich jahrzehntelang als karitative Organisation profiliert und damit Rückhalt vor allem bei der ländlichen Bevölkerung gewonnen. Der Staat zog sich insbesondere seit der Präsidentschaft Anwar Al-Sadats ab 1970 kontinuierlich aus dem Bildungs- und Gesundheitssektor zurück, strich die Gelder für diese Sektoren zusammen und leistete der Ausbreitung von durch die Bruderschaft aufgebauten Koran-Schulen und Gesundheitszentren, in denen die Muslimbruderschaft das in Moscheen gesammelte Geld in kostenlose Bildungs- und Gesundheitsleistungen investierte, Vorschub. Der Einflussgewinn der Organisation steht damit in direktem Zusammenhang mit dem Scheitern des ägyptischen Staatsapparats bei der Finanzierung der Gesundheits- und Bildungspolitik vor allem auf dem Land.
© Sofian Philip Naceur 2013