In Ägypten ist das Komitee zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung zusammengetreten. Das 50 köpfige Gremium soll innerhalb von zwei Monate einen Entwurf erarbeiten und Interimspräsident Adli Mansour vorlegen. Anschließend soll der Text per Referendum verabschiedet werden. Die neuerliche Ausarbeitung einer Verfassung ist Teil des Fahrplans zur Überwindung der politischen Krise am Nil nachdem die Armee im Juli den islamistischen Staatspräsidenten Mohamed Mursi abgesetzt und eine Übergangsregierung installiert hatte. Grundlage des Vorgehens ist das präsidentielle Dekret vom 8. Juli, das vorsieht nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Ägyptens Übergangsführung, die Armee und Kader des 2011 gestürzten Regimes Hosni Mubaraks wollen rasch zur Normalität zurückkehren und die Gunst der Stunde nutzen, um die Muslimbrüder politisch auszuschalten und revolutionäre militärkritische Akteure zu marginalisieren solange die Armee auf einer Popularitätswelle schwimmt (erschienen in Junge Welt am 12.9.2013).
Erst im Herbst hatten Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) gemeinsam mit der salafistischen Al-Nour-Partei auf Grundlage ihrer absoluten Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung eine neue Verfassung durch die Institutionen gepeitscht und diese per Referendum verabschieden lassen. Bei niedriger Wahlbeteiligung wurde der islamistische Entwurf beim Referendum im Dezember 2012 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen. Die Proteste in Ägypten gegen Mursis Politik und die Muslimbrüder intensivierten sich kurz darauf, auch aufgrund des kompromisslosen Vorgehens der islamistischen Mehrheit in der Kammer. Fast alle Vertreter des liberalen und linken Lagers sowie Frauen und Christen hatten damals die Versammlung aus Protest gegen das rigorose Durchsetzen eines islamistischen Entwurfes durch FJP und Al-Nour demonstrativ verlassen.
Das neue Komitee zur Ausarbeitung einer Verfassung wird von liberalen Kräften dominiert. Grundlage der Besetzung des Gremiums ist das Dekret von Mansour, dass die Einbindung von allen politischen Kräften sowie Gewerkschaften und Vertreter der christlichen Minderheit vorsieht. Faktisch wird der gesamte Entwurfsprozess der neuen Verfassung jedoch von der Armee kontrolliert, die Präsident Mansour und die Übergangsregierung eingesetzt hat und die Massenproteste gegen Mursi und den Unmut über seine Regierungsführung instrumentalisierte, um die vor-revolutionären politischen Zustände wieder herzustellen. Während liberale Kräfte überrepräsentiert sind, kommen die Gewerkschaftsvertreter ausschließlich aus staatlich kontrollierten Gewerkschaften. Das islamistische Lager ist nur durch zwei Abgeordnete vertreten: das Ex-Mitglied der Muslimbrüder Kamal El-Helbawy und den Vizechef der Al-Nour Bassam El-Zarqa.
Die Al-Nour-Partei hatte intern lange darüber gestritten, ob sie an der Ausarbeitung der neuen Verfassung teilnehmen soll. Noch vor Einberufung der 50 köpfigen Versammlung hatte ein von Mansour berufenes zehn-köpfiges technisches Komitee die Verfassung von 2012 überarbeitet. 33 Artikel wurden gestrichen und 124 überarbeitet. Al-Nour protestierte vor allem gegen die Streichung von Artikel 219, der die Scharia in die Verfassung aufgenommen hatte. Dessen Löschung bedrohe die islamische Identität Ägyptens heißt es aus Reihen der Al-Nour. Die Partei bezeichnet den auszuarbeitenden Entwurf als Interimsverfassung, schließlich hatte sie die Verfassung von 2012 maßgeblich mit gestaltet und durch ihre Teilnahme an der neuen Versammlung das Vorgehen der Armee implizit legitimiert. Die Verfassung von 2012 ist für die Muslimbrüder weiterhin gültig, während sich Al-Nour mit der taktischen Teilnahme am verfassungsgebenden Komitee die Option offen hält als Vertreter des islamistischen Lagers politischen Einfluss zu wahren. Da den Muslimbrüdern ein erneutes Verbot droht, hofft Al-Nour aus dem Kaltstellen der Bruderschaft politisches Kapital schlagen zu können.
Wie hoch ihre Chancen stehen ist jedoch ungewiss. Die Verfassung von 2012 hatte religiöse Parteien erstmals legalisiert, doch hat das 10 köpfige Komitee die entsprechenden Passagen bereits gestrichen. Sollte der Entwurf in dieser Fassung auch das 50 köpfige Gremium passieren, wären FJP und Al-Nour verfassungswidrig. Die Änderungsvorschläge geben bereits die Richtung vor. Die Wahl des Verteidigungsministers soll die Zustimmung der Armee benötigen und das Budget der Streitkräfte nur bedingt von der Exekutive kontrolliert werden können. Zudem wurde der Artikel entfernt, der die politische Betätigung von Ex-Mitgliedern der aufgelösten Nationaldemokratischen Partei Mubaraks für zehn Jahre untersagt hatte.
Die Wahl Amr Moussas, einem engem Verbündeten Mubaraks, zum Vorsitzenden des Komitees macht deutlich wie nah die Mehrheit des Gremiums dem Militär und den alten Mubarak-Seilschaften stehen. Schon die erste Änderungsrunde deutet auf eine Restauration des verfassungsrechtlichen Status Quo von vor der Revolution 2011 hin, die mit einer umfassenden Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse gleich kommen dürfte.
© Sofian Philip Naceur 2013