Ägypten versinkt erneut in einer Welle der Gewalt. Während Zehntausende den Aufrufen von Übergangsregierung und Militärführung folgten und an den Feierlichkeiten des 40. Jahrestages des Beginns des Jom-Kippur-Krieges gegen Israel teilnahmen, lieferten sich Anhänger der jüngst gerichtlich verbotenen Muslimbrüder und Gegner der Absetzung von Ex-Präsident Mohamed Mursi durch die Armee am 3. Juli heftige Straßenschlachten mit Polizei und Armee. Nach offiziellen Angaben starben bei den Ausschreitungen landesweit mindestens 53 Menschen, 30 davon in Kairo und 19 in Giza. Auch aus Alexandria, Beni Suef und Minya wurden Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei gemeldet (in redigierter und aktualisierter fassung erschienen in Junge Welt am 8.10.2013).
Trotz expliziter Warnungen des Innenministeriums, auf jede Störung des offiziellen Feiertages würde mit voller „Härte“ reagiert werden, riefen die Muslimbrüder zu Protesten gegen die Armeeführung und Mursis Absetzung auf und zogen in Richtung Tahrir-Platz in Kairo, dem zentralen Schauplatz der Feierlichkeiten zum Kriegsbeginn am 6. Oktober 1973. Am Vormittag flog die Luftwaffe mit Kampfjets unzählige Manöver über der Stadt und sprühte die ägyptische Nationalfahne in den Himmel. Am Nachmittag begannen heftige Straßenschlachten zwischen Anhängern der Muslimbruderschaft und der Polizei in der Ramses Straße nahe des Tahrir und in Dokki, einem Stadtteil Gizas auf der anderen Seite des Nils. Die Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), eine dem Innenministerium unterstellte paramilitärische Polizeieinheit, und die Armee setzten massiv Tränengas und Gummigeschosse ein. Vereinzelt wurde auch vom Einsatz scharfer Munition berichtet.
Die Ausschreitungen konzentrierten sich später in Dokki, da die Armee auf den Nilbrücken Stellung bezogen hatte und die Anhänger der Bruderschaft daran hinderte in Richtung Stadtkern vorzustoßen. Anwohner des Bezirks „verteidigten“ ihr Stadtviertel zusammen mit der Armee, die nach offiziellen Angaben in Kairo und Giza über 400 Menschen verhaftete. Seit Ausbruch der politischen Turbulenzen am Nil mit der Absetzung Mursis am 3. Juli ist Dokki das erste Mal Schauplatz derartiger Ausschreitungen. Anwohner bewarfen die Demonstranten mit Eiern und Gemüse.
Ägypten ist fast drei Jahre nach der Revolution und drei Monate nach Mursis Absetzung polarisierter denn je. Das Land ist ein Pulverfass, doch Regierung und Armeeführung sehen ihre Aufgabe nicht darin der Spaltung der Bevölkerung mit politischen Mitteln zu begegnen. Anstatt mit allen relevanten Akteuren in einen Dialog zu treten, gießen Generäle und Übergangsregierung immer wieder gezielt Öl ins bereits lodernde Feuer. Auch die Führungskader der Muslimbrüder verweigern sich einer Annäherung und schicken seit Monaten ihr Fußvolk auf die Straßen, wohlwissend, dass CSF und Armee den Protesten mit Gewalt entgegentreten. Zudem werden die Aufrufe der Muslimbrüder zu zivilem Ungehorsam immer wieder als Aufruf verstanden staatliche Gebäude anzuzünden. Das Land steckt in einer Gewaltspirale, aus der es ob machtpolitischer Motive von Bruderschaft und Armee nicht so schnell wieder herauskommen dürfte.
© Sofian Philip Naceur 2013