Der Arabische Frühling erfasste 2011 die gesamte Region, doch in Algerien blieb es ruhig. Das Land ist weit entfernt von einer Massenrevolte. Die größte regimekritische Demonstration lockte im April 2011 in Algier nur 3000 Menschen auf die Straße und wurde zur Machtdemonstration des Staates, der die Hauptstadt mit 30000 Polizisten in eine Festung verwandelte. Das Land erlebte vor 25 Jahren seinen demokratischen Frühling, als am 5. Oktober 1988 Massenunruhen gegen die Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) das Land erschütterten. Damals war der Staat ob des niedrigen Ölpreises pleite. Doch anders als Tunesien und Ägypten schwimmt Algeriens Regierung heute im Geld. Das Land ist einer der größten Energieversorger Europas und dank des hohen Weltmarktpreises für Erdöl finanziell unabhängig (Junge Welt 11.10.2013).
Der Frust der Menschen über politische Ohnmacht, Korruption und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit entlädt sich zwar immer wieder in Protesten, doch verhält sich die Regierung seit 2011 äußerst geschickt, pumpt Geld in die Gesellschaft und versucht den Unmut der Menschen zu kanalisieren. Die Regierung erhöhte Subventionen auf Nahrungsmittel und treibt Infrastrukturprojekte voran, allen voran Autobahnen, wie die Ost-West-Trasse von Algier nach Oran. Algier hat seine erste Metro-Linie und Oran eine moderne Straßenbahn. Auch die Müllbeseitigung hat Fortschritte gemacht.
Algeriens größte soziale Probleme jedoch sind Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit. Seit Jahren steckt der Staat Milliarden in den sozialen Wohnungsbau, um Menschen mit niedrigem Einkommen bezahlbaren Wohnraum bereit stellen zu können. Doch um den Zuschlag für diese Objekte zu bekommen, müssen Beamte oder Politiker bestochen werden. Im Oktober kündigte Premierminister Abdelmalek Sellal eine Intensivierung sozialer Wohnbauprojekte an. „Wir denken an die Zukunft Algeriens, wir denken langfristig und nicht an morgen oder die Urnen“, sagte Sellal, betonend, die Ausweitung der Bauprojekte habe nichts mit den 2014 anstehenden Präsidentschaftswahlen zu tun habe.
Nachdem das Regime jahrelang aus Angst vor dem Einflussgewinn unabhängiger Gewerkschaften vermied das Land zu industrialisieren, strömen heute zahlreiche neue Firmen ins Land. Fabriken und Filialen ausländischer Konzerne werden eröffnet, doch bekämpft die kosmetische „Wirtschaftsöffnung“ keineswegs die Arbeitslosigkeit. Unabhängige Gewerkschaften sind dem Regime ein Dorn im Auge. Sie sind ein Aktivposten bei Anti-Regime-Protesten und bedrohen das Machtmonopol von Armee und FLN. Auch wenn sich der Staat unfähig zeigt das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekommen, hat die Regierung dennoch genug Geld, um sich Afrikas größten Rüstungsetat leisten zu können.
© Sofian Philip Naceur 2013