Fast drei Jahre nach der ägyptischen Revolution 2011, die den langjährigen Autokraten Hosni Mubarak stürzte, und vier Monate nach Absetzung von Staatspräsident Mohammed Mursi durch das Militär, ist das Land am Nil polarisierter denn je. Anhänger der Muslimbrüder ziehen immer noch regelmäßig durch die Straßen und fordern die völlig realitätsferne Wiedereinsetzung des in ihren Augen legitimen Präsidenten. Auf der anderen Seite stehen die Gegner der Bruderschaft und ihrer katastrophalen Politik, die der Machtübernahme des Militärs begeistert zujubeln. Das liberale politische Lager steht fast geschlossen auf der Seite von Armee und Übergangsregierung. Zwischentöne sind selten geworden am Nil. Am 9. Oktober wagte sich in Kairo das erste Mal seit Mursis Sturz die anti-militaristische und anti-islamistische Opposition auf die Straße. Solche Proteste von gewerkschaftsnahen linken Gruppen hatten zuletzt wenig Zulauf und wurden diffamiert. Wer nicht für die Armee ist, sei Anhänger der Muslimbrüder, hieß es oft (erschienen in der Trikont-Beilage der Jungen Welt am 23.10.2013).
Ägyptens Gesellschaft ist ein Pulverfaß, doch Regierung und Militärführung verwehren sich ihrer Verantwortung der gefährlichen Spaltung der Bevölkerung mit politischen und integrativen Mitteln zu begegnen. Anstatt mit allen relevanten Akteuren in einen friedlichen Dialog zu treten, gießen sowohl Militärs als auch (..) Übergangsregierung unter Präsident Adli Mansur und Premierminister Hasem Beblawi immer wieder Öl ins bereits lodernde Feuer. Doch auch die Muslimbrüder zündeln weiter und schicken seit Monaten Freitag für Freitag ihr Fußvolk auf die Straße, wohl wissend, daß die dem Innenministerium unterstellten paramilitärischen Zentralen Sicherheitskräfte (CSF) und die Armee nicht zögern die Proteste mit Gewalt aufzulösen. Die Bruderschaft ermutigt ihre Anhängerschaft, sich auf den gewaltsamen Machtpoker mit dem aus der Asche der Revolution auferstandenen alten Regime einzulassen. Dahinter steht die berechnende Hoffnung, aus den wiederkehrenden Gewaltexzessen von Armee und CSF politisches Kapital schlagen zu können.
Leidtragende ist Ägyptens Bevölkerung. Zwischen den Fronten zweier nach absoluter politischer Macht strebender Interessengruppen droht sie aufgerieben zu werden. Auf der einen Seite stehen die islamistischen Muslimbrüder, auf der anderen das alte Regime, eine Melange aus ehemaligen Parteigängern Mubaraks, einer privaten Wirtschaftselite und dem Militär- und Sicherheitsapparat. Die Ideale der Revolution »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit« sind noch immer unerreicht, vor allem für den politisch marginalisierten und wirtschaftlich benachteiligten Teil der ägyptischen Gesellschaft. Ob der Talfahrt der Wirtschaft und dem Währungsverfall 2013 hängt der sogar noch stärker am Tropf der Lebensmittelsubventionen.
Die Revolution 2011 brachte zwar Mubarak und seine engeren Gefährten zu Fall, doch Staats- und Sicherheitsapparat sind nach wie vor durchsetzt von Profiteuren der alten sozioökonomischen und politischen Ordnung. Nach dem Sturz Mubaraks übernahm der Oberste Militärrat (SCAF) unter Feldmarschall Hussein Tantawi die Regierungsgeschäfte am Nil. Während die Muslimbrüder bereits damals hofften, von einem demokratischen Übergangsprozeß zu profitieren und daher ihre Proteste gegen den Militärapparat einstellten, gingen die Demonstrationen gegen den Polizeistaat, die weit verbreitete Folter von Armee und CSF und die neoliberale Wirtschaftspolitik unvermindert weiter.
Mit dem Amtsantritt Mursis im Juni 2012 schwoll das Protestpotential gegen Regierung und Staatspräsident erneut an, angereichert durch die Jugend der städtischen, christlichen und säkularen Mittelschicht, die um ihre liberalen Freiheiten bangte. Genau diese Freiheiten drohten durch den Einzug der Muslimbrüder in die staatlichen Institutionen aufgeweicht zu werden. Ihre Dominanz in der verfassungsgebenden Versammlung und im Oberhaus des Parlamentes erlaubte es der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), dem politischen Arm der Muslimbruderschaft, nach »demokratischem« Mehrheitsprinzip ihre Agenda durch die Institutionen zu peitschen. Die säkulare Opposition war machtlos, wollte sie nicht die Armee um Hilfe bitten und so einer Restauration des alten Regimes den Weg bereiten. Doch speist sich das liberale Lager, das im Übergangskabinett stark vertreten ist, aus Kadern, die schon unter Mubarak politisch mitgemischt haben.
Heute jedoch sind weit mehr als nur Konturen einer Konterrevolution am Nil erkennbar. Die wiedererstarkten Kader des alten Regimes sowie hochrangige Armeeoffiziere, die während der SCAF-Herrschaft dem Führungszirkel der Armee angehörten, müssen sich im Herbst 2013 nicht mehr verstecken. Sie sitzen im Übergangskabinett Beblawis und in der verfassungsgebenden Versammlung. Getragen auf einer Welle pro-militärischer Propaganda (..) lassen sie sich von der Straße aus für ihre harte Hand gegenüber der Bruderschaft bejubeln. In der Übergangsregierung finden sich zahlreiche alte Bekannte. Nicht wenige ,wie Kamal Ganzouri, in den 1999ern Premierminister Mubaraks, treibende Kraft bei der neoliberalen Marktöffnung und Privatisierungswelle und heute Berater (..) Präsident Mansurs, waren zuvor Funktionäre der von Mubarak kontrollierten und 2011 aufgelösten Nationaldemokratischen Partei (NDP). Die NDP-Seilschaften haben sich im liberalen politischen Spektrum Ägyptens neu formiert und drängten erfolgreich zurück ins politische Machtzentrum.
Der »tiefe Staat«, wie die korrupten und eng verflochtenen Seilschaften aus ehemaligen NDP-Kadern, privaten Wirtschaftsgrößen und dem mächtigen Polizei- und Militärapparat genannt werden, schreckte nicht einmal davor zurück den gefürchteten Staatssicherheitsdienst (Mabahith Amn El Dowla) zu reaktivieren. Die dem Innenministerium unterstellte Behörde war eine Säule des Mubarak-Regimes und für die »Drecksarbeit« zuständig. Der mächtige Dienst verfügte über ein weites Netzwerk an Spitzeln, überwachte und schikanierte die Opposition und soll für Folter und Wahlmanipulation verantwortlich gewesen sein. 2011 wurde er unter der SCAF-Regentschaft offiziell aufgelöst und nun von der Übergangsregierung faktisch rehabilitiert. Gerichtliche Untersuchungen zu den mutmaßlichen Verbrechen des Staatssicherheitsdienstes und deren rechtskräftige Aufarbeitung dürften unter diesen Umständen lange auf sich warten lassen.
Der Militär- und Polizeiapparat hat sich die Unzufriedenheit der städtischen Bevölkerung über wirtschaftliche Stagnation und der säkularen Teile der Gesellschaft über die schleichende Islamisierung des Staatswesens durch die Politik Mursis und der Muslimbruderschaft geschickt zu Nutzen gemacht. Die Massendemonstrationen gegen den Präsidenten am 30. Juni gaben der Armee Absolution für dessen Absetzung, die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Restauration der alten Verhältnisse. Die Armee schießt um sich und das Innenministerium nimmt wieder unabhängige Gewerkschaften ins Visier. Flankiert wird die Wiedergeburt des Polizeistaats von ausufernder medialer Dämonisierung der Bruderschaft. Das Regime braucht einen Sündenbock. So unfähig sich die Bruderschaft gezeigt hat, am Nil zu regieren, so gefährlich ist es sie in die Illegalität zu treiben und politisch kaltzustellen. Langfristig wird sie aus politischer Ausgrenzung profitieren.
© Sofian Philip Naceur 2013