Die verfassungsgebende Versammlung in Ägypten hat ihre Arbeit beendet und den Entwurf zur neuen Verfassung des Landes am Dienstag an Staatspräsident Adli Mansour übergeben. Diesem obliegt es nun die Bevölkerung innerhalb von 30 Tagen in einem landesweiten Referendum über den Entwurf abstimmen zu lassen. Beobachter rechnen jedoch nicht mit einem Urnengang vor Mitte Januar. Grundlage des Verfassungsgebungsprozesses ist das Präsidialdekret Mansours vom 8. Juli, dass die alte im Dezember 2012 während der Präsidentschaft Mohamed Mursis verabschiedete Verfassung außer Kraft setzte und einen Zeitplan für die Übergangsperiode festlegte. Nach Erarbeitung eines Verfassungsentwurfes und Abhaltung eines Referendums sollen nach Annahme des Entwurfes Präsidentschafts- und Parlamentswahlen folgen (erschienen in Junge Welt am 4.12.2013).
Die kontroverse Debatte um Ägyptens neue Verfassung geht damit in eine neue Runde, nachdem das Land bereits 2012 monatelang über die neue Verfassungsgrundlage gestritten hatte. Die 2012 bei niedriger Wahlbeteiligung in einem Referendum angenommene Verfassung wurde von vielen Seiten für ihre islamistische Färbung kritisiert. Der politische Arm der Muslimbruderschaft, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), und die salafistische Partei Das Licht hatten damals eine absolute Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung und nutzen ihre Mehrheiten konsequent aus. Der Versammlung wurde von vielen Seiten die Legitimität abgesprochen, da Positionen und Vorschläge der Minderheiten in der Versammlung nicht adäquat berücksichtigt worden seien. Frauen, Christen und Liberale hatten nach und nach aus Protest gegen die Kompromisslosigkeit der islamistischen Mehrheit das Gremium verlassen.
Nach der Absetzung Mursis durch die Armee im Juli beauftragte Mansour ein zehnköpfiges Technokratenkomitee, das erste Vorschläge für eine Verfassungsreform erarbeitet hatte. Die Ergebnisse wurden schließlich am 1. September an die 50 köpfige vom Staatspräsident ernannte verfassungsgebende Versammlung übergeben, die ihre Arbeit nun fristgerecht beendete. Liberale, säkulare und regimenahe Kräfte waren überrepräsentiert in dem Gremium, in dem das islamistische Lager nur von einem Ex-Mitglied der Muslimbrüder und einem Vertreter der ultrakonservativen salafistischen Partei Das Licht vertreten war. Präsident Mansour und die hinter ihm stehende Armeeführung versuchten der Versammlung zwar durch Quoten für die christliche Minderheit, Gewerkschaften, Jugendbewegungen und andere gesellschaftlich relevante Kräfte den Anschein der Legitimität und Repräsentativität zu verleihen, doch durch die Marginalisierung der Islamisten wird deren vehemente Kritik am administrativen Rahmen des gesamten Verfassungsgebungsprozesses nicht abreißen. Auch säkulare Kräfte, vor allem linksliberale Parteien und Bewegungen, lehnen die Zusammensetzung des Gremiums ab. Dessen Besetzung sei willkürlich und undemokratisch und habe dem alten Regime nahe stehende Kader begünstigt.
Grundlage des Entwurfes ist das Dokument von 2012, das lediglich überarbeitet wurde. Während der Text durch die Streichung des umstrittenen Scharia-Artikels 219 seine islamistische Färbung verliert, reist Kritik an der Formulierung von Religionsfreiheit im vorliegenden Entwurf nicht ab. Diese schreibt eine „absolute“ Freiheit des Glaubens fest, beschränkt diese jedoch faktisch auf Islam, Judentum und Christentum. Zu den wichtigsten Passagen zählen zudem die Artikel, die den politischen Einfluss von Ägyptens Streitkräften festschreiben. So haben die Generäle für die kommenden acht Jahre das Recht den Verteidigungsminister zu stellen. Auch bleibt das Militärbudget weiterhin ohne legislative Kontrolle. Wie schon in der Verfassung von 2012 bleiben Militärtribunale für Zivilisten grundsätzlich erlaubt, auch wenn von „limitiertem“ Recht der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten im Vergleich zur 2012er Verfassung gesprochen wird. Die Formulierungen sind derart vage, dass die entsprechenden Artikel einen hohen Interpretationsspielraum lassen und von der Opposition als Blankoscheck für die Armee aufgefasst wird Zivilisten vor Militärgerichten abzuurteilen.
© Sofian Philip Naceur 2013