Ägyptens Bevölkerung hat über eine neue Verfassung abgestimmt. Zwar liegen die offiziellen Endergebnisse noch nicht vor, doch dürfte der Text mit einem Traumergebnis für die Militärführung unter Verteidigungsminister und Armeechef Abdel Fattah El-Sisi und Ägyptens Interimsregierung angenommen worden sein. Schon die Resultate der im Ausland lebenden Ägypter waren eindeutig. Die Zustimmung für die neue Verfassung lag bei niedriger Wahlbeteiligung bei über 95 Prozent. Erste Ergebnisse und Umfragen nach dem Urnengang in Ägypten lassen auf ähnliche Werte schließen. Die staatliche ägyptische Tageszeitung Al-Ahram berichtet von inoffiziellen Zustimmungsraten zwischen 91 und 99 Prozent (erschienen in Junge Welt am 17.1.2014).
Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben höher als beim letzten Verfassungsreferendum im Dezember 2012 und erreichte mit knapp 20 Prozent in Marsa Matrouh an der Mittelmeerküste ihren niedrigsten und 51 Prozent in Gharbiya im Nildelta ihren höchsten Wert. Regierung, Militärführung und zahlreiche politische Parteien hatten vor der Wahl eine aggressive Kampagne für die neue Verfassung lanciert und im ganzen Land mit unzähligen Plakaten, Fernsehwerbespots und Radiosendungen Ägyptens Bevölkerung zur Teilnahme an dem Urnengang und Zustimmung für die neue Verfassung aufgerufen. Kampagnen, die für eine Ablehnung des Dokumentes warben, wurden von Sicherheitskräften unterbunden. Schon im Vorfeld des Urnengangs wurden Mitglieder der Partei Starkes Ägypten und der Muslimbruderschaft verhaftet. Der Vorwurf: sie hätten geplant das Referendum mit Gewalt zu stören und Wahlberechtigte daran zu hindern an der Wahl teilzunehmen. Derweil setzten sich Übergriffe gegen Journalisten fort. Ein Mitarbeiter des ägyptischen TV-Senders MBC soll mit der Begründung verhaftet worden sein Plakate bei sich gehabt zu haben, die aufriefen gegen die Verfassung abzustimmen. Auch ein Journalist des den Muslimbrüdern nahe stehenden TV-Senders Al Jazeera wurde verhaftet.
Das am Mittwoch und Donnerstag landesweit durchgeführte Referendum blieb zwar unblutiger als von Beobachtern und vielen Ägyptern erwartet, doch gab es während der zweitägigen Abstimmung im ganzen Land Ausschreitungen zwischen Anhängern der verbotenen und im Dezember 2013 als „terroristische Vereinigung“ deklarierten Muslimbruderschaft und Sicherheitskräften. Die Organisation hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen und angekündigt „friedlich“ gegen den Urnengang zu protestieren. Insgesamt wurden rund 450 Mitglieder der Bruderschaft verhaftet. Landesweit sollen bei den Zusammenstößen zwölf Menschen getötet worden sein. Unter anderem starben vier Demonstranten in Sohag in Oberägypten und drei in Nahya, einem Dorf im Westen Gizas, der zweitgrößten Stadt Ägyptens. Demonstranten hatten bereits am Dienstag versucht Wahllokale in dem Dorf zu stürmen, während es im Nachbarort Kerdasa am Mittwoch zu ähnlichen Zwischenfällen kam. Die Gegend gilt als Hochburg der Bruderschaft. Erst im September war Ägyptens Armee mit einem Großaufgebot nach Kerdasa einmarschiert und dabei gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft vorgegangen.
Das Verfassungsreferendum wurde von einem Großaufgebot an Sicherheitskräften begleitet. Ägyptens Armee hatte vor zahlreichen Wahllokalen Stellungen bezogen und traditionelle Versammlungsorte für Proteste der Muslimbruderschaft vorsorglich abgeriegelt. Erstmals seit Wochen ließ die Armee wieder Militärhelikopter über der Stadt patrouillieren. Vor allem aus dem Großraum Kairo wurden mehrere Versuche von Demonstranten gemeldet den Wahlprozess zu stören. Gegner der Absetzung von Ex-Präsident Mohamed Mursi im Juli 2013 durch die Armeeführung und der zur Abstimmung stehenden neuen Verfassung blockierten mehrere Hauptverkehrskreuzungen an der Al-Azhar Universität in Nasr City im Osten Kairos und besetzten eine Metrostation in Helwan südlich der Hauptstadt. Nachdem bereits am Dienstag eine Bombe vor einem Wahllokal im Armenstadtteil Imbaba in Giza explodierte, meldeten ägyptische Behörden am Mittwoch zwei weiter Bombenfunde in Mahalla Al-Kubra im Norden Kairos und Bulak Al-Dakrour in Giza. Opfer gab es keine.
© Sofian Philip Naceur 2014
Anonymous
Wurde die Muslimbrüderschaft nicht erst im Dezember 2013 zu einer Terrorgruppe erklärt?
Sofian Philip Naceur
Ja, wurde sie. Danke für den Hinweis, Tippfehler. Ist bereits korrigiert.
Anonymous
Danke für die Korrektur. Dieser Artikel fällt durch seine Ausgewogenheit und den Verzicht auf Klischees auf, was in der deutschen Presse eher selten ist.