„Die Streitkräfte und die Polizei sind die Schutzschilde des Landes“, so Ägyptens Verteidigungsminister und Armeechef Feldmarschall Abdel Fattah El Sisi in seiner Rede in der Polizeiakademie kurz vor dem Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution im Januar 2014. An gleicher Stelle erklärte Interimspräsident Adli Mansour das „Ende des Polizeistaates“ und sagte, Ägyptens Polizeiapparat werde zu unrecht für Verbrechen „einzelner Mitglieder und Anführer“ des Innenministeriums verantwortlich gemacht. Die Glorifizierung von Armee- und Polizeiapparat kennt am Nil inzwischen keine Grenzen. Seit der Absetzung Präsident Mohamed Mursis durch die Armeeführung am 3. Juli 2013 ertrinkt das Land im Nationalismus und das Interimsregime unter Mansour, El Sisi und der Übergangsregierung von Premierminister Hazem El Beblawi setzt alles daran das Militär und vor allem die Polizei in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Trotz andauernder Polizeigewalt auf den Straßen und in den Gefängnissen des Landes preisen regimenahe politische Kräfte den Armee- und Polizeiapparat als Garant der Stabilität und dessen unverzichtbare Rolle im „Kampf gegen den Terror“ (erschienen in Junge Welt am 11.2.2014).
Die Wirklichkeit sieht indes anders aus. Während die im Dezember zur „terroristischen Vereinigung“ erklärte Muslimbruderschaft seit ihrer Entmachtung im Juli 2013 das wesentliche Ziel staatlicher Repression war, hat der Staat seit November seine Kampagne gegen Andersdenkende und Oppositionelle auch auf das säkulare politische Lager ausgeweitet. Heute, drei Jahre nach dem Sturz des 30 Jahre lang autokratisch regierenden Staatspräsidenten Ägyptens Hosni Mubarak, ist der alte Polizei- und Militärstaat restauriert. Verteidigungs- und Innenministerium waren trotz Mubaraks Fall am 11. Februar 2011 keineswegs Ziel einer tiefgreifenden Strukturreform oder einer Säuberungswelle neuer politischer Kräfte. Es rollten Köpfe, jedoch nicht viele und vor allem keine aus dem Sicherheitsapparat. Mubaraks 2011 verbotene Nationaldemokratische Partei (NDP) formiert sich heute neu. Zahlreiche NDP-Kader und Weggefährten Mubaraks aus der Privatwirtschaft waren 2011 untergetaucht oder hatten aufgrund von Korruptionsklagen das Land verlassen. Ex-NDP-Politiker wie Ahmed Shafiq sind heute politisch wie juristisch rehabilitiert und zahlreiche neoliberal und armeefreundlich ausgerichtete Parteien buhlen um die Gunst der Generäle. Die Armee braucht ein neues ziviles Feigenblatt.
Die Entmachtung der in weiten Teilen der Bevölkerung verhassten Muslimbrüder hat dem alten Polizei- und Militärstaat wieder Oberwasser verschafft. Geschickt präsentieren sich Ägyptens Militär und das exekutive Übergangsregime als Vorkämpfer für die Rückkehr auf den Pfad der Demokratie und unverzichtbare Kraft im Anti-Terror-Kampf. „In ihrem Vorgehen gegen die Bruderschaft hat sich die ägyptische Regierung den allseits bekannten Diskurs der „Terrorismusbekämpfung“ angeeignet, der schon während der Herrschaft Mubaraks benutzt wurde“, heißt es in einem jüngst veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. „Anstatt Ägyptens Sicherheitskräfte zu zügeln, haben ihnen Behörden effektiv ein Mandat zur Repression überreicht.“ Seit dem 3. Juli 2013 sind inoffiziellen Zahlen zufolge mindestens 1400 Menschen durch politische Gewalt getötet worden, meist durch die Hände von Sicherheitskräften. Nicht ein einziger Soldat oder Polizist ist nach dem Massaker bei der Räumung des Muslimbrüder Protestcamps am 14. August 2013 an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Ost-Kairo, bei der mindestens 650 Menschen getötet wurden, zur Rechenschaft gezogen worden. Seit dem 3. Juli sind lediglich vier Anklagen gegen Sicherheitsbeamte wegen Menschenrechtsverstößen anhängig. Alle vier stehen in Zusammenhang mit dem Tod von 37 Menschen bei ihrem Transfer ins Abu Zaabal Gefängnis in einem Polizeitransporter im Sommer 2013. Auch während der 17 Monate Militärherrschaft unter Feldmarschall Hussein Tantawi von Februar 2011 bis Juni 2012 ist Ägyptens Justiz untätig geblieben. Nur drei einfache Soldaten wurden in dieser Zeit wegen Totschlags verurteilt.
Auf der anderen Seite geht der Sicherheitsapparat seit November 2013 vermehrt gegen die linksliberale und säkulare Opposition vor. Funktionäre und einfache Mitglieder der Revolutionären Sozialisten, der Bewegung des 6. April oder der gemäßigt islamistischen Partei Starkes Ägypten sind ebenso betroffen von der Welle an Verhaftungen wie Journalisten. Politische Aktivisten und Menschenrechtlerinnen müssen heute täglich mit ihrer Verhaftung rechnen. Behörden hätten gegen sämtliche bekannten Aktivisten Haftbefehle ausgestellt, um die Opposition mürbe zu machen und zu bedrohen, sagt ein Aktivist der Revolutionären Sozialisten. Das Zentrum für soziale und wirtschaftliche Rechte, eine in Kairo ansässige Menschenrechtsorganisation, gibt die Zahl der zwischen dem 30. Juni und dem 31. Dezember 2013 Verhafteten mit landesweit mindestens 21317 Menschen an. Die Meisten sind Mitglieder oder Sympathisanten der Muslimbrüder. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Repressive Praktiken sind wieder zur Normalität geworden: Internierte haben keinen Kontakt zu Anwälten, ihre Familien wissen nicht wo sie festgehalten werden und Geheimdienst- und Polizeibeamte foltern ohne Strafen fürchten zu müssen. Polizeistaat und Militärdiktatur am Nil sind zurück.
Ägyptens neues Protestgesetz
Ägyptens neue Verfassung und das im November 2013 in Kraft getretene neue Demonstrationsgesetz geben Behörden und Sicherheitskräften faktisch einen Freifahrtschein, um jedwede unerwünschte Opposition in Ägypten mundtot zu machen und zu kriminalisieren. Politische Aktivisten, Linke, Muslimbrüder und am Nil arbeitende Menschenrechtsorganisationen können heute keine Kritik am Militär und der Regierung üben oder mit Journalisten sprechen, ohne Verhaftung und Verurteilung zu befürchten. Während die Verfassung die Vormachtstellung der Armee ausbaut und die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten mit Verfassungsrang ausstattet, kriminalisiert das neue Protestgesetz Demonstrationen und Streiks und erlaubt Ägyptens Exekutive die juristisch legitimierte politisch motivierte Verfolgung der Opposition. Ein Mitarbeiter einer regional operierenden Menschenrechtsorganisation aus Kairo bezeichnet das Regelwerk als „legalen Mechanismus für die selektive Bestrafung“ unerwünschter politischer Meinungen. Artikel 7 des Gesetzes verbietet Proteste, die „die allgemeine Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Produktion“ behindern. Zudem begreift das Gesetz „Aufrufe zur Störung des öffentliches Interesses“ sowie jedweden Versuch den „Transport- oder Verkehrsfluss“ zu behindern und Privateigentum zu beschädigen als illegal. Diese vagen Formulierungen erlauben Behörden praktisch jede Demonstration oder öffentliche Äußerung juristisch zu verfolgen. Dennoch habe seit dem Anschlag auf ein Polizeihauptquartier in Kairo am 24. Januar 2014 eine Verlagerung der politisch motivierten Verfolgung säkularer Aktivisten eingesetzt, sagt ein Menschenrechtler. Seit dem Anschlag würden diese kaum noch auf Basis des Protestgesetzes verhaftet und angeklagt, sondern vermehrt auf Grundlage der Anti-Terror-Gesetze. Das Regime hat damit seine Anti-Terror-Kampagne von den Islamisten auf die säkulare Opposition ausgeweitet und droht jede Person unter Terrorverdacht zu internieren, die sich der neuen Staatsdoktrin widersetzt oder schlichtweg verdächtig erscheint.
© Sofian Philip Naceur 2014