Ägyptens Justiz setzt im Umgang mit der verbotenen und im Dezember 2013 zur terroristischen Vereinigung erklärten Muslimbruderschaft weiter auf einen harten Kurs. Am Montag verurteilte ein Gericht in Minya in Oberägypten 529 angebliche Mitglieder der Organisation zum Tode, 18 wurden freigesprochen. Die Anklage geht auf die gewaltsame Stürmung einer Polizeiwache in Minya am 14. August 2013 zurück, bei der der Polizeioffizier Mostafa El Attar getötet wurde. Während der gewaltsamen Räumung zweier Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo und Giza waren am selben Tag mehrere hundert Menschen getötet worden. In ganz Ägypten fanden danach gewaltsame Proteste von Muslimbrüdern statt, die staatliche Einrichtungen wie Polizeistationen angegriffen hatten. Das Urteil wurde im Schnellverfahren durchgepeitscht und bereits am zweiten Prozesstag ausgesprochen. Nach der Urteilsverkündung entbrannte ein Sturm der Entrüstung (erschienen in Junge Welt am 26.3.2014).
Das hinter verschlossenen Türen stattfindende Verfahren wurde nach Angaben von Strafverteidigern ohne adäquate Beweisführung oder Zeugenbefragungen durchgeführt. Anwälten wurden Stellungnahmen zu den Anklagepunkten verweigert. Nach unterschiedlichen Angaben waren lediglich 120 bis 150 Angeklagte zur Zeit des Verfahrens inhaftiert und nur 70 im Gerichtssaal anwesend. Der Prozess habe damit nach Auffassung von Juristen selbst gegen ägyptische juristische Minimalstandards verstoßen. Das Onlinemagazin Telepolis bescheinigt der ägyptischen Justiz in ihrem Vorgehen gegen die Bruderschaft „hysterische Züge“. Die menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag Annette Groth verurteilte den Richterspruch aufs Schärfste. Auch das US-Außenministerium, Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierten das Urteil. Die englischsprachige Website der Bruderschaft Ikhwanweb bezeichnete die ägyptische Justiz am Montag als „korrupt“ und das Urteil als „inhuman“ und „klare Verletzung aller Normen juristischer Gerechtigkeit“.
Die Anklage in dem Mammutprozess lautete Gewalt, Mord und Vandalismus gegen staatlichen Besitz und Diebstahl von Polizeiwaffen. Das Gericht in Minya tritt am 28. April erneut zusammen, um das umstrittene Urteil zu bestätigen. Mit einem Berufungsverfahren wird gemeinhin gerechnet. Zudem muss die Todesstrafe von der höchsten religiösen Instanz des Landes, Großmufti Shawki Allam, bestätigt werden, bevor das Urteil rechtskräftig wird. Ägypten ist eins von rund 40 Ländern weltweit, in denen die Todesstrafe durchgeführt wird. Der Richterspruch ist dennoch selbst für den repressiven ägyptischen Justizapparat ein Novum. Noch nie wurden derart viele Todesurteile in nur einem Prozess verhängt. Und der Mammutprozess ist noch nicht vorbei. Gestern standen weitere 682 Angeklagte vor dem Richter in Minya, unter anderem der Anführer der Muslimbruderschaft Mohamed Badie. Die deutlich abgeflauten Proteste von Anhängern der Bruderschaft könnten damit wieder neue Nahrung erhalten. Ägyptens Sicherheitsapparat bereitet sich bereits auf neue Proteste der Bruderschaft vor. Erstmals seit Wochen patrouillierten wieder Militärhelikopter über Kairo.
Unklar bleibt, inwieweit das Justizministerium in Kairo in das Urteil verwickelt ist. Ägyptens Justizapparat gilt als hochgradig korrupt und von der Zentralregierung abhängig. Eine Gewaltenteilung ist faktisch inexistent. Seit der Revolution 2011 fanden keinerlei ernstzunehmende Versuche der jeweiligen Machthaber statt den Justizapparat am Nil zu reformieren. Insbesondere Urteile gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft gelten seit dem Sturz von Staatspräsident Mohamed Mursi im Juli 2013 als politisch motiviert und undurchsichtig.
Über die Ausführung der Todesstrafe in Ägypten existieren wenig gesicherte Informationen. Die staatliche Tageszeitung Al Ahram berichtet von 709 Todesurteilen von 1981 bis 2000 von denen 249 exekutiert wurden. Seit 2009 wurden durch Ägyptens Justiz deutlich mehr Todesurteile ausgesprochen. Von 2010 bis 2012 sollen 342 Menschen zum Tode verurteilt worden sein, mindestens ein Urteil wurde ausgeführt. Das Onlinemagazin Egyptian Streets berichtet von 15 vollstreckten Todesurteilen in den letzten zehn Jahren.
© Sofian Philip Naceur 2014