Die größte Demonstration seit Menschengedenken oder eine beeindruckende Form direkter Demokratie. So und ähnlich bezeichnete die ägyptische aber auch die internationale Presse die Massendemonstrationen gegen Ägyptens islamistischen Ex-Präsidenten Mohamed Mursi am 30. Juni 2013. Millionen zogen damals auf die Straße und forderten den Rücktritt des umstrittenen Staatsoberhauptes und ein Ende der Herrschaft der islamistischen Muslimbruderschaft. Die von Ägyptens Militär veröffentlichen Luftaufnahmen von den landesweiten Demonstrationen waren imposant, zeugten sie doch von einer ungebremsten Mobilisierung vieler Menschen für politische Veränderungen. Die revolutionäre Stimmung in Ägypten am 30. Juni war ein Sinnbild für eine Gesellschaft, die sich zur Wehr setzt und sich von den alten Kadern des 2011 gestürzten Regimes Hosni Mubarak nicht mehr einschüchtern lassen will. Doch schnell drehte sich der Wind am Nil (erschienen in Junge Welt am 30.6.2014).
Mursis Absetzung durch die Militärführung unter dem damaligen Verteidigungsminister und Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi bedeutete jedoch das vorläufige Ende von Ägyptens Revolution. Am 3. Juli verkündete Al-Sisi die Absetzung Mursis, doch besiegelte er damit auch das Ende der seit 2011 gelebten pluralistischen Diskussionskultur am Nil. Das Militär und die mit ihm verbündeten Seilschaften im Staatsapparat hatten die Gunst der Stunde genutzt und sich an die Spitze der Opposition zur Bruderschaft gestellt. Ägyptens Armee folgte dem Ruf der Straße, setzte den Präsidenten ab und präsentiert sich seither als Bollwerk gegen das Machtstreben der Muslimbrüder. Gleichzeitig bedienten mit dem Armeeapparat eng verflochtene Kader des alten Regimes eine nationalistisch unterfütterte Kampagne gegen die islamistische und die linke und liberale Opposition. Ägyptens nie gänzlich entmachteter Repressionsapparat hatte wieder Fahrt aufgenommen.
Seit dem 3. Juli 2013 wurden über 41000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, rund 3300 wurden bei Demonstrationen und Anschlägen getötet. Selbst die dunkelsten Tage der Herrschaft Mubaraks wurden damit weit in den Schatten gestellt. Das neue Demonstrationsgesetz stellt Proteste und Streiks unter Strafe und Judikative und Exekutive nutzen den Rückenwind für Ägyptens frisch gewählten Präsidenten Al-Sisi und machen kritische Stimmen mundtot. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird seit dem 3. Juli demontiert und die Justiz agiert als verlängerter Arm des wieder an die Macht drängenden alten Regimes und verkündet ein politisch motiviertes Urteil nach dem anderen. Neben Schauprozessen gegen Mursi-Anhänger, ist auch die linksliberale säkulare Opposition zur Zielscheibe geworden. Das alte Regime ist zurück und es übt Rache. Symbolisch für diese Vergeltungskampagne steht das repressive Vorgehen gegen Journalisten. Die hohen Haftstrafen für mehrere Mitarbeiter des in Qatar ansässigen der Bruderschaft nahe stehenden TV-Senders Al Jazeera sind jedoch nur die Spitze des Eisberges. Vor allem ägyptische Journalisten stehen heute im Visier des Staates und dieser setzt alles daran Presse und öffentliche Meinung mit Gewalt auf Linie zu trimmen.
Heute, ein Jahr nach Mursis Absetzung durch das von Al-Sisi geführte Militär, ist die alte Ordnung vollständig restauriert. Das alte Militärregime ist zurück an der Macht, verteidigt seine Privilegien und baut diese auf dem Rücken der ägyptischen Gesellschaft gar noch aus. Es geht um politische Macht und wirtschaftlichen Einfluss, den sich der Militärapparat langfristig und exklusiv sichern will. Nach anfänglicher internationaler Kritik am Vorgehen der Armee sowie Sanktionen ist der Status Quo des Regimes heute wiederhergestellt. International wurde Ägypten rehabilitiert, zu gewichtig sind die geopolitischen Interessen des Westens am Nil. Die Mitgliedschaft Ägyptens in der Afrikanische Union, die im Juli 2013 suspendiert wurde, ist erst letzte Woche wiederhergestellt worden und US-Außenminister John Kerry verkündete bei seinem jüngsten Besuch in Kairo die vollständige Freigabe der 2013 eingefrorenen Militärhilfen für Ägypten. Währenddessen rief die Muslimbruderschaft für diese Woche erneut zu Protesten gegen den Staatsstreich vom 3. Juli auf. An den restaurierten Machtverhältnissen ändert dies wenig. Die Bruderschaft ist politisch kalt gestellt, zumindest vorläufig und die revolutionäre säkulare Opposition droht auch weiterhin zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Doch Ägyptens neuer Staatspräsident Al-Sisi muss aufpassen, will er die neoliberale Ordnung langfristig stabilisieren. Er setzt nicht nur auf eine zum Scheitern verurteilte Wirtschaftspolitik, sondern wie seine Vorgänger innenpolitisch auf Repression. Eine neue Welle der Revolution ist nur eine Frage der Zeit.
© Sofian Philip Naceur 2014