Bei der Parlamentswahl in Tunesien am vergangenen Sonntag musste die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei eine empfindliche Niederlage einstecken. Mit rund 31 Prozent der Stimmen landete sie auf Platz zwei hinter der erst 2012 neu gegründeten Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens), die auf Anhieb rund 37 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichte. Damit kann Nidaa Tounes mit 85 Sitzen in der neuen 217 köpfigen Abgeordnetenkammer rechnen, Ennahda mit maximal 69 Sitzen. Offizielle Endergebnisse werden Ende der Woche erwartet. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 62 Prozent höher als bei der Legislativwahl 2011. Von den rund 7,8 Millionen Wahlberechtigten hatten sich jedoch nur 5,3 Millionen für die jüngste Abstimmung registrieren lassen. Etwas mehr als drei Millionen Menschen waren am Sonntag zu den Urnen gezogen (erschienen in Junge Welt am 29.10.2014).
Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi gestand nach Bekanntwerden erster Hochrechnungen die Niederlage seiner Partei ein und rief zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit auf. Eine Koalition mit Nidaa Tounes bleibt für Ennahda die einzige Möglichkeit auch weiterhin an der Regierung beteiligt zu sein. Bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung im Herbst 2011, die seither als Übergangsparlament fungiert, erreichte Ennahda noch rund 37 Prozent der Stimmen. Nach dem Urnengang hatte sie eine Koalition mit zwei kleineren Parteien gebildet, der sozialdemokratischen Ettakatol und dem zentristischen Kongress für die Republik (CPR) des amtierenden Präsidenten Moncef Marzouki. Diese zerbrach 2013 nach den Morden an den Linkspolitikern Mohamed Brahmi und Chokri Belaïd, beide aus den Reihen der Volksfront.
Beide Ex-Koalitionäre Ennahdas ließen in der jüngsten Abstimmung kräftig federn. Während die CPR noch mit vier Sitzen rechnen kann, bleibt der erneute Einzug Ettakatols ins Abgeordnetenhaus unwahrscheinlich. Beide hatten seit 2011 mit dem so genannten Floor crossing, dem Wechsel von gewählten Abgeordneten zu anderen Parteien, zu kämpfen. Während Ettakatol zehn seiner 20 Abgeordneten im Übergangsparlament an andere Parteien verlor, schlossen sich gar 17 von 29 Abgeordnete von Marzoukis CPR anderen Parteien an. Beide verloren mehrere Parteivertreter an den Wahlsieger der Parlamentswahl vom Sonntag Nidaa Tounes.
Drittstärkste Kraft am Sonntag wurde die wirtschaftsliberale anti-islamistische Freie Patriotische Union des Oligarchen Slim Riahi mit 16 Sitzen vor der Volksfront, einem Bündnis zahlreicher linker Parteien, die mit insgesamt 15 Sitzen ins neuen Parlament einziehen wird. 2011 waren noch drei verschiedene Parteien aus den Reihen der Allianz mit insgesamt sechs Sitzen ins Abgeordnetenhaus eingezogen. Die neoliberale rechtsorientierte Afek Tounes kommt auf neun, die dem alten Regimes nahe stehende Al-Moubadara (die Initiative) auf vier Sitze. Die verbleibenden 20 Sitze entfallen auf Unabhängige und kleinere Parteien.
Damit steuert Tunesien auf eine Koalitionsregierung zu. Nidaa Tounes, ein Sammelbecken für ehemalige Funktionäre der Konstitutionellen Demokratischen Sammlung (RCD), der aufgelösten Regimepartei Ben Alis, braucht für eine Mehrheit in der Kammer ganze 109 Mandate und damit mindestens zwei Koalitionspartner. Die Freie Patriotische Union, Afek Tounes und Al-Moubadara haben beste Chancen auf Verhandlungen mit Béji Caïd Al-Sebsi, dem Parteichef von Nidaa Tounes, schließlich finden sich in den Reihen aller genannter Parteien ehemalige Vertreter von Ben Alis RCD. Während Riahis Freie Patriotische Union als Königsmacher in den anstehenden Koalitionsverhandlungen fungieren könnte, gilt ein Eintreten der Volksfront von Hamma Hammami in eine von Nidaa Tounes geführte Regierung als unwahrscheinlich. Das massiv gestärkt aus der Abstimmung hervorgegangene Linksbündnis versteht sich als dritte politische Kraft neben Ennahda und Ben Ali nahe stehenden Parteien. Während die Wahlkommission derweil weiter Stimmen auszählt, bereitet sich Tunesien bereits auf den nächsten Urnengang vor. Am 23. November wird ein neuen Präsident gewählt.
© Sofian Philip Naceur 2014