Entfesselte Staatsmacht im Nord-Sinai

Das umstrittene Vorgehen ägyptischer Sicherheitskräfte im sogenannten Anti-Terror-Kampf wird bereits seit Langem misstrauisch beäugt. Der „versehentliche“ Beschuss einer Touristengruppe in der westlichen Wüste durch die Armee vor rund einer Woche war die vorerst letzte Episode einer ganzen Reihe von Fehlschlägen. Derweil sorgt nun ein Bericht der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) für Furore, der Ägypten für die Vertreibung tausender Menschen im Norden der Sinai-Halbinsel an der ägyptisch-palästinensischen Grenze massiv attackiert. Dem Bericht zufolge sind seit 2013 allein in Rafah, der Grenzstadt zum palästinensischen Gaza-Streifen, 3255 Familien aus ihren Häusern vertrieben worden (erschienen in Junge Welt am 26.9.2015).

HRW wirft Kairo vor mit den Zwangsräumungen in Rafah gegen internationales Recht zu verstoßen. Ägypten versprach zwar Kompensationsleistungen für enteignete Familien und zahlt diese zumindest teilweise aus, doch seien die Zahlungen zu niedrig, um Betroffene für ihre Verluste zu entschädigen. Auch seien Familien oft nur 48 Stunden im Voraus über die bevorstehende Zerstörung ihrer Häuser informiert worden, so HRW. Kompensationen für zerstörtes Ackerland – insgesamt rund 700 Hektar – seien derweil nicht vorgesehen.

Ägyptens Armee kämpft in der Provinz um die Städte Al-Arish und Rafah bereits seit Jahren gegen militante Extremisten, die immer wieder Anschläge auf Einrichtungen von Armee und Polizei verüben. Erst im Herbst 2014 hatte sich die Islamistengruppe Ansar Beit Al-Makdis der Terrormiliz Islamischer Staat angeschlossen und in Wilayat Sina (Arabisch für Provinz Sinai) umbenannt. Fast zeitgleich starben bei einer Anschlagwelle in Al-Arish und der Kleinstadt Scheikh Zuweid 28 Soldaten. Die Zentralregierung in Kairo lancierte daraufhin eine massive Militäroffensive in der Region und beschloss an der Grenze zum Gaza-Streifen eine Pufferzone zu errichten, um die Tunnelwirtschaft zwischen dem isolierten Gaza-Streifen und Rafah auszutrocknen.

Kairo beschuldigt die in Gaza regierende Hamas die Aufständischen im Nord-Sinai mit Waffen zu versorgen und will daher die Tunnel zwischen Gaza und Rafah zerstören. Dabei ist bekannt, dass sich Wilayat Sina mit Waffen aus Libyens Beständen versorgt. Wolle Ägypten die Nachschubversorgung der Extremisten stören, müsse der Waffenschmuggel an der libysch-ägyptischen Grenze bekämpft werden, sagt ein im Nord-Sinai arbeitender Journalist, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will. Er bestätigt die Angaben von HRW über die Räumungskampagne im Sinai. Diese betreffe jedoch nicht nur Rafah, sondern auch umliegenden Siedlungen. 14 Dörfer nahe Scheikh Zuweid und 11 weitere nahe Rafah seien heute komplett verlassen.„Nach jedem Anschlag packen die Menschen ihre Sachen und fliehen um ihr Leben“, sagt der Journalist. Die anhaltende Militärkampagne mache ein geregeltes Leben unmöglich. Die Wasser- und Stromversorgung sei zusammengebrochen und die anhaltende Staatswillkür gegen Zivilisten veranlasse viele Menschen nicht nur aus Angst vor den Extremisten zur Flucht, sondern auch aus Angst vor der Armee.

Willkürliche Verhaftungen von Zivilisten gehören weiterhin zum Alltag, meint auch ein Student aus Al-Arish, der in Kairo gearbeitet hat und sich heute versteckt hält. Aus Angst grundlos verhaftet zu werden, sagt er.

Ägyptens Regierung propagiert derweil ein anderes Bild der Lage. In einer Stellungnahme heißt es, Ägypten sei verpflichtet die Sicherheit und Integrität seines Territoriums zu garantieren. Die Armee führe sämtliche Maßnahmen in der Region im Einvernehmen mit der lokalen Bevölkerung durch. Das Nachprüfen staatlicher Angaben bleibt unterdessen schwierig, da Journalisten der Zugang zum Nord-Sinai durch die Behörden auch weiterhin verwehrt wird. Der zitierte Journalist glaubt derweil, Kairo überhöhe die Bedrohung durch Wilayat Sina gezielt, um restriktive Verordnugen wie das neue Anti-Terror-Gesetz in der Öffentlichkeit legitimieren zu können. Ägyptens Armee könne die Extremisten in zwei Tagen unschädlich machen, wenn sie nur wollte.

© Sofian Philip Naceur 2015

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