Krieg im Sinai – Ägypten will ganze Stadt ausradieren

Häuser werden gesprengt oder mit Bulldozern sprichwörtlich plattgemacht, tausende Menschen vertrieben. Ägyptens Armee will nun sogar eine ganze Stadt von der Landkarte tilgen. Menschenrechtler sind entsetzt.

Ägyptens rabiate Vorgehensweise im Anti-Terror-Kampf im Norden der Sinai-Halbinsel steht schon längere Zeit am Pranger und wird von Beobachtern misstrauisch beäugt. Doch die jüngsten Enthüllungen über die zweifelhafte Vorschlaghammerpolitik, die Ägyptens Armee in der Provinz an der Grenze zu Israel und dem palästinensischen Gaza-Streifen verfolgt, stellen alles bisher bekannt gewordene weit in den Schatten. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sind die Bemühungen der Regierung in Kairo die Stadt Rafah an der Grenze zum Gaza-Streifen komplett zu räumen und zu zerstören schon weiter fortgeschritten als angenommen. In einem gestern veröffentlichten Bericht beschuldigt HRW die ägyptische Führung internationale Menschenrechtsstandards im Nord-Sinai konsequent zu missachten und präsentiert umfassende Informationen zur Lage in der abgelegenen und hermetisch abgeriegelten Provinz (erschienen bei n-tv Online am 23.9.2015).

Seit Juli 2013 seien alleine in Rafah 3255 Häuser komplett zerstört und ihre Bewohner vertrieben worden. Insbesondere seit der Intensivierung der Kampfhandlungen zwischen der Armee und radikalen Extremisten im Herbst 2014 habe sich die Lage für Zivilisten vor Ort massiv verschlechtert, heißt es in dem Bericht. HRW kritisiert auf Grundlage von Interviews mit vertriebenen Familien und der Auswertung von Satellitenbildern vor allem die Umstände der Vertreibungen. So versprach Ägypten Kompensationszahlungen an Betroffene, doch diese seien unzureichend. Auch seien Familien oft nur 48 Stunden im Voraus über die bevorstehende Zerstörung ihrer Häuser informiert worden, so HRW. Kompensationen für zerstörtes Ackerland – insgesamt rund 700 Hektar – seien nicht vorgesehen und entzögen den Menschen schlicht ihre Lebensgrundlage.

Derweil lancierte Ägyptens Regierung fast zeitgleich eine Kampagne, um die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. In einer Stellungnahme heißt es, Ägypten sei verpflichtet die Sicherheit und Integrität seines Territoriums zu garantieren und betont auch die Notwendigkeit für humanitäre und medizinische Hilfe für die in Mitleidenschaft gezogenen Bewohner in der Region. Die Realität im Nord-Sinai sieht indes anders aus. Eine gut vernetzter im Nord-Sinai arbeitender Journalist, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, berichtet von grenzenloser Staatswillkür. Verhaftungen von Zivilisten und Angriffe auf ihre Häuser gehören zum Alltag im Nord-Sinai. Die Wasser- und Stromversorgung sei faktisch zusammengebrochen. Auch sei nicht nur Rafah von den Vertreibungen betroffen. Nahe der Kleinstadt Scheikh Zuweid südlich von Rafah, der Brennpunkt der Militäroffensive gegen die Radikalen, seien mittlerweile mindestens 14 Dörfer komplett verlassen. „Nach jedem Anschlag packen die Menschen ihre Sachen und fliehen um ihr Leben“, sagt er.

Doch warum agiert Ägyptens Armee derart kompromisslos im Nord-Sinai und geht es hier wirklich um den Kampf gegen den Terror? Bereits im Juli 2013 lancierte Ägyptens Armee eine Militäroffensive gegen radikale meist im Nord-Sinai operierende Extremisten, die sich 2014 öffentlichkeitswirksam dem Islamischen Staat in Syrien und im Irak anschlossen. Damals hatte sich die Islamistengruppe Ansar Bait Al-Maqdis in Wilayat Sina (Arabisch für Provinz Sinai) umbenannt und ihre Angriffe auf Einrichtungen von Polizei und Armee massiv intensiviert. Die Reaktion der Zentralregierung in Kairo folgte prompt und hat bisher wenig zur Stabilisierung der Lage beigetragen. Im Gegenteil. Ägyptens Antwort auf die terroristische Bedrohung ist Willkür. Primäres Ziel Ägyptens bleibe es derweil die Tunnelwirtschaft zwischen Rafah und Gaza trocken zu legen. Kairo sieht in den Tunneln, durch die Konsumgüter, Lebensmittel und auch Waffen in den vollständig isolierten Gaza-Streifen geschmuggelt werden, das Hauptproblem. Und dieses Problem will Kairo nun ein für alle mal lösen.

Auch nutzt Kairo jedes Mittel, um die Berichterstattung über den Konflikt zu kontrollieren. So ließ Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah Al-Sisi ein Dekret verabschieden, dass die Veröffentlichung von Opferzahlen nach Anschlägen oder Armeeoffensiven, die offiziellen Angaben widersprechen, kriminalisiert. Journalisten haben derweil keinen Zugang zu der Provinz. Ägypten besteht derweil auf seiner Sicht der Dinge. Nur die an der Grenze zum Gaza-Streifen geplante Pufferzone könne dem Terror Einhalt gebieten, schließlich versorge sich Wilayat Sina durch Waffenlieferungen aus Gaza. Dabei verdreht Ägyptens Regierung hier schlichtweg die Fakten, sind es doch Waffenlieferungen aus Libyen, die sowohl in den Sinai als auch in den Gaza-Streifen geschmuggelt werden. Wollte Ägypten den Zufluss an Waffen für die palästinensische Hamas und Wilayat Sinai unterbinden, müsse man Schmuggelrouten an der libysch-ägyptischen Grenze schließen. Derweil meint der Journalist, die Gründe für die Räumung Rafahs und der anhaltenden Militäroffensive sei weniger der Anti-Terror-Kampf. Wilayat Sina unschädlich zu machen dauere keine zwei Tage, meint er. Kairo nutze den Konflikt vielmehr, um restriktive Gesetze wie das neue Anti-Terror-Gesetz legitimieren zu können.

© Sofian Philip Naceur 2015

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