Noch ist nicht absehbar wohin die anhaltende Protestwelle in Tunesien führen wird. Zur Absetzung eines Diktators wird es nicht kommen, denn im Gegensatz zu anderen vom sogenannten Arabischen Frühling erfassten Ländern, hat es Tunesiens Zivilgesellschaft geschafft, den Druck auf die herrschenden Eliten aufrechtzuerhalten und damit eine neue Autokratie zu verhindern. Präsident Béji Caїd Essebsi und Regierungschef Youcef Chahed gelten zwar als Vertreter des 2011 gestürzten Regimes von Exdiktator Ben Ali, dessen schleichende Rückkehr den demokratischen Übergang des Landes überschattet, doch von Ben Alis absolutistischer Machtfülle sind sie weit entfernt (erschienen in junge Welt am 12.1.2018).
Dennoch reagiert die Regierung auf die Proteste mit einer Rhetorik, die nicht nur an Ben Ali erinnert, sondern auch in den Nachbarländern und in Europa immer wieder bemüht wird, um Sozialproteste zu diskreditieren. Sie seien von von außen gesteuerte „Randalierer“, die der Gesellschaft schaden, doch der Kampf gegen Korruption und Wirtschaftskrise gehe weiter, heißt es.
Dabei ist genau das nur bedingt der Fall. Seit dem Sturz Ben Alis haben sich in Tunesien neun Regierungen daran versucht, den Übergang des Landes zu verwalten und das fragile Machtgefüge zu stabilisieren. Doch sowohl die wirtschaftliche Lage als auch die parteipolitische Polarisierung haben es keiner davon leicht gemacht, keine Frage. Das Problem aber ist vielmehr die Tatsache, dass es den Ben Ali nahe stehenden Kräften darum geht, das Erbe der Revolution zu verwalten und keineswegs darum, Gesellschaft und Volkswirtschaft im Sinne der Forderungen der Revolution zu verändern. „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ waren nicht nur in Ägypten die Ziele des Aufstandes, sondern auch in Tunesien.
Doch die Regierung hält an einer Politik fest, die auf Privatisierungen und sozialpolitische Maßnahmen setzt, die den marginalisierten Teil der Gesellschaft unter enormen Druck setzt während Essebsi und Chahed ein Amnestiegesetz verabschieden ließen, dass Ben Alis Schergen vor Strafverfolgung schützt. Steuerhinterziehung und Korruption bleiben also folgenlos während sich die Einkommensschwachen durch neue Steuern und Subventionskürzungen dem Diktat des Internationalen Währungsfonds beugen müssen, der Tunesien mittels milliardenschwerer Kredite den Reformweg vorschreiben will.
Doch die heute abermals protestierende Jugend spielt nicht mit und ist sieben Jahre nach der Revolution immer noch selbstbewusst genug, diesen Unmut lautstark zu artikulieren. Tunesiens Regierung, aber auch der IWF, muss aufhören über soziale Gerechtigkeit und Korruption zu reden; sie muss endlich liefern und Tunesiens Bevölkerung zeigt mit den jüngsten Protesten, dass sie nicht mehr bereit ist, sich mit hohlen Phrasen und Durchhalteparolen zufrieden zu geben.
© Sofian Philip Naceur 2018
Kathrin Ehrenspeck
Ihre Forderungen sind mehr als berechtigt – aber auf welchen Beinen stehen sie? Wo sind die Machtmittel, mit denen sie durchsetzbar wären?
Ich finde Ihre Deutung der Proteste bewundernswert optimistisch. Ich kenne diese jetzige Situation in Tunesien nicht aus persönlichem Erleben, aber wäre vom Studium der Berichte, die ich gelesen habe, niemals auf die Idee gekommen, den Protestierern „Selbstbewusstsein“ zuzuschreiben, gar ein politisches Konzept.
Warum nicht? Weil ich denke, dass Streiks und Revolutionen auf einem Gleichgewicht der Kräfte beruhen müssen. Wenn eine Belegschaft streikt, erinnert sie den Fabrikanten daran, dass nicht nur sie abhängig von seiner Lohnzahlung sind, sondern auch er abhängig von ihrer Arbeitskraft. Dann kann der Streik Erfolg haben. Oder die Revolution. Es muss eine Revolution der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter sein. Aber in einem Land, wo (das kenne ich allerdings als Tatsache nur von Ägypten, ich unterstelle es auch für Tunesien als Möglichkeit) ein Streik kurzerhand damit beendet werden kann, dass die ganze Belegschaft fliegt und andere Arbeitslose eingestellt werden, kann das auf dieser Ebene schon mal nicht funktionieren.
Aus meiner Sicht sind die Vorgänge in Tunesien reine Frust-Randale von verzweifelten Menschen, die nichts, aber auch gar nichts in der Hand haben, um ein Konzept durchzusetzen. DAS ist aus meiner Sicht das Schlimme.
Gegen was sollte die Revolution sich denn auch richten? Gegen die Regierung? Die kann doch selber nicht machen, was sie will. Und dass sie die Situation ausnutzt, ist scheußlich, aber wohl kaum das zentrale Problem. Also gegen z.B. den IWF? Das wäre schon richtiger, aber wie denn?
Sofian Philip Naceur
In der Tat würde ich nicht so weit gehen, den Menschen, die in der vergangenen Woche in Ausschreitungen mit der Polizei verwickelt waren, ein politisches Konzept zu unterstellen. Aber zeitgleich mobilisiert ja auch die Zivilgesellschaft, die in Tunesien durchaus über Machtmittel verfügt seit 2011. Während diese Zivilgesellschaft explizit soziale Gerechtigkeit fordert und damit auch die Forderungen der „Frust-Randalierer“ beachtet, haben Tunesiens Gewerkschaften durchaus Mittel und Wege sich für ihre Klientel einzusetzen – anders als derzeit in Ägypten. Schaut man sich die Parolen der Proteste vom 14. Januar an, dann fällt auf, dass hier nicht der Sturz des Regimes/Präsidenten/etc gefordert wird, sondern der Sturz des Budgetsplans für 2018. Hier geht es um den Willen zur politischen Veränderung und die Bereitschaft dafür auch zu kämpfen – und beides ist in der Gesellschaft offenbar vorhanden. Daher mein vorsichtiger Optimismus.
Kathrin Ehrenspeck
Danke für Ihre Antwort! Ich werde demnächst wieder reisen und auf diese Punkte achten. Ihre Worte werden meine Brille sein – sozusagen. Mal sehen, was zu erkennen ist.