EU-Grenzregime – Tunesiens Seegrenze im Visier

Der Krieg in Libyen geht trotz Coronakrise unvermindert weiter, die irreguläre Migration aus dem Land und auch Tunesien nach Europa ebenfalls. In den vergangenen zwei Wochen registrierten Behörden in Italien, Malta, Libyen und Tunesien fast täglich Versuche von Menschen, über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa zu fliehen. Die von der EU seit Jahren systematisch hochgerüstete sogenannte libysche Küstenwache hatte allein in der zweiten Maihälfte fast 700 Geflüchtete auf See abgefangen und zurück in das Land gebracht, wo diese meist unter katastrophalen Bedingungen inhaftiert werden. Auch tunesische Behörden intensivierten zuletzt ihre Grenzkontrollmaßnahmen an der Küste und ließen Dutzende Menschen bei Versuchen verhaften, per Boot nach Italien überzusetzen (erschienen in junge Welt am 3.6.2020).

Im März und April waren im Vergleich zu den Vormonaten deutlich weniger Menschen »irregulär« per Boot in Richtung EU aufgebrochen. Seit Mitte Mai hat die Anzahl von Flüchtlingen über die zentrale Mittelmeerroute jedoch wieder zugenommen. Grund genug für die EU und ihre Mitgliedstaaten, an der migrationspolitischen Kooperation mit Libyen und Tunesien festzuhalten. In einer bisher unveröffentlichten Antwort auf eine Kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (Die Linke) bestätigt die Bundesregierung dabei neue Details über die für die BRD sicherheits- und migrationspolitisch relevante Kooperation mit Tunesien.

Berlins polizeiliches und grenzkontrollpolitisches Engagement in dem Land zielt dabei weiterhin vor allem auf zwei Bereiche ab: Terrorismusbekämpfung und Verminderung der »irregulären« Migration. Schon seit Jahren unterstützt die Bundesregierung Tunesien dabei, seine Landgrenzen zu den Nachbarstaaten Libyen und Algerien hochzurüsten, um diese undurchlässiger für bewaffnete Gruppen und vor Krieg und Elend flüchtende Menschen zu machen. Dafür führt sie Ausbildungsmaßnahmen zugunsten tunesischer Polizeibehörden durch und liefert Ausrüstung wie Radargeräte, Fahrzeuge und Ausstattung für die Küstenwache.

Schon im vergangenen Jahr förderte Berlin ein unter anderem vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit Sitz in Wien durchgeführtes Grenzkontrollprojekt in Tunesien mit 1,5 Millionen Euro. Das Vorhaben beinhalte »das Einrichten und Ausstatten von Einsatzleitstellen der Grenzpolizei« (Nationalgarde) und »den Aufbau eines Schulungszentrums für Grenzmanagement«, erklärt das Auswärtige Amt (AA) in der Antwort auf Hunkos Anfrage. Die Errichtung von Schulungsräumen, Unterkünften und Grenzdienstellen in den drei westtunesischen Provinzen Kef, Jendouba und Kasserine an der algerischen Grenze sei derweil abgeschlossen, so das AA. Vor allem in der Region Kasserine verfolgt die Maßnahme die Absicht, die dortigen Aktivitäten radikaler Gruppen einzuschränken. Zugleich soll die algerisch-tunesische Grenze gegen »irreguläre« Übertritte von Flüchtenden abgeschottet werden.

Während Berlin gemeinsam mit der US-Regierung Tunesien mit Radarsystemen und Kameras für die Überwachung der tunesisch-libyschen Landgrenze ausrüstet, hat die Kontrolle und Überwachung von Tunesiens Seegrenzen offenbar inzwischen höchste Priorität. Im vierten Quartal 2019 belieferte die Bundesregierung die Küstenwache des Landes im Rahmen einer Ausstattungshilfe für eine Bootswerkstatt in Sfax unter anderem mit einem Schwimmpier, einem Portalkran und weiterer Ausrüstung, heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag zu Polizei- und Zolleinsätzen im Ausland. Demnach führte die Bundespolizei im vierten Quartal 2019 ganze 14 Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für tunesische Behörden durch, die meisten davon für die Nationalgarde, die Grenzpolizei und die Küstenwache, die in die Nutzung von »Kontrollbooten« eingewiesen wurde. Das Bundeskriminalamt führte im November in Tunesien insgesamt zwei Lehrgänge durch, »Auswertung elektronischer Medien« und »Tatortarbeit nach Sprengstoffdelikten«.

Libyen und Tunesien würden von der Bundesregierung, aber auch der EU zum Vorhof einer Festung Europa ausgebaut, sagte Hunko dazu gegenüber jW. Anstatt den Fokus auf die »Migrationsabwehr« zu richten, müsse die EU zu einer solidarischen Nachbarschaftspolitik in Nordafrika finden, fordert er.

© Sofian Philip Naceur 2020

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