Tunesiens Ölindustrie lahmgelegt

Noch im Juni durfte sich Tunesien zu Recht für seine Coronakrisenpolitik loben lassen. Premierminister Elyes Fakhfakh hatte früh reagiert und damit ein gesundheitspolitisches Desaster verhindert. Heute aber sind die Lorbeeren verspielt. Fakhfakh versinkt in einer Korruptionsaffäre, die Regierung ist seit letzter Woche gestürzt und nur noch geschäftsführend im Amt, und im Parlament gehen sich fast alle politischen Kräfte in teils grotesker Manier an die Gurgel. Während Tunesiens politische Klasse mit Grabenkämpfen beschäftigt ist, hat der coronabedingte Lockdown die wirtschaftliche und soziale Misere in den seit Jahrzehnten systematisch vernachlässigten Regionen im Westen und Süden des Landes extrem verschärft. Die seit Mai anhaltenden Proteste reißen nicht ab (erschienen in junge Welt am 23.7.2020).

Epizentrum ist einmal mehr die südtunesische Provinz Tataouine. Seit Jahren kämpft hier die nach ihrem Ursprungsort benannte El-Kamour-Bewegung für die Schaffung von Jobs in der Ölindustrie und Investitionen in die lokale Wirtschaft. Doch die Regierung hat ihre 2017 vollmundig gemachten Versprechen nicht gehalten. Daher gehen die Aktivisten seit Mai erneut in die Offensive, organisierten mehrere Sit-ins und blockierten Straßen. Doch Fakhfakh reagierte nicht.

Die Protestierenden verschärften daher ihren Tonfall und errichteten im Juni ein Protestcamp in El Kamour, einer mitten in der Wüste gelegenen und für die Ölindustrie strategisch wichtigen Region rund 100 Kilometer südwestlich der Stadt Tataouine. Nachdem Demonstranten die einzige Zufahrtsstraße zu den von tunesischen Staatsfirmen und internationalen Energiemultis ausgebeuteten Ölförderstätten blockiert hatten, ließ Tunesiens Polizeiapparat das Sit-in am 20. Juni gewaltsam räumen. Elf Menschen wurden verhaftet, Dutzende weitere verletzt. Zwar wurden die Verhafteten kurz darauf wieder freigelassen, dennoch brachen in Tataouine heftige Unruhen aus, die in tagelangen Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Polizei mündeten. Ein am Dienstag veröffentlichter Bericht von Amnesty International belegt Prügelattacken der Ordnungskräfte gegen verletzte Demonstranten und dem massenhaften Einsatz von Tränengas gegen die friedliche Protestaktion.

Die Aktivisten der Bewegung ließen sich von dem Gewaltexzess jedoch nicht einschüchtern und besetzten im Juli eine Ölpumpstation. Mit Unterstützung des Gewerkschaftsdachverbandes UGTT riefen sie Mitte Juli zudem zu einem Generalstreik in Tataouine auf. Mit Ausnahme lebenswichtiger Bereiche stehen öffentlicher Dienst und Staatsindustrie seither weitgehend still. Die El-Kamour-Bewegung und die UGTT wollen so lange weiter mobilisieren, bis das 2017 unter UGTT-Vermittlung geschlossene Abkommen mit der Regierung endlich umgesetzt ist. Die Exekutive hatte den Aktivisten damals die stufenweise Schaffung von 1.500 Jobs in der Ölindustrie, 3.000 weiteren Arbeitsplätzen in anderen Sektoren und Investitionen in Höhe von umgerechnet 25 Millionen Euro in der Region versprochen. Bisher seien jedoch nur 70 neue Jobs geschaffen worden, erklärte Tarek Haddad, Sprecher der Bewegung, schon im Dezember gegenüber Radio Tataouine.

In den Forderungskatalog der Aktivisten wurde inzwischen auch die Rücknahme von Entlassungen beim österreichischen Energieriesen OMV aufgenommen, der an der Ausbeutung des Nawara-Gasfeldes in Südtunesien beteiligt ist. Der Konzern hatte 14 Angestellten fristlos gekündigt und zehn weitere aus Disziplinargründen gefeuert. Das Personal wehrte sich, lancierte zwei Streiks und verweist auf eine Erklärung des Sozialministeriums, die die Entlassungen als illegal einstuft. Das Unternehmen zeigt sich inzwischen aber offenbar verhandlungsbereit. Den 14 fristlos Gekündigten sollen Entschädigungen angeboten werden, den zehn anderen wurden Jobs in einem anderen OMV-Projekt versprochen, heißt es aus Gewerkschaftskreisen. Die UGTT und die betroffenen Arbeiter lehnten das Angebot aber zunächst ab.

© Sofian Philip Naceur 2020

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