Investitions- und Hilfsversprechen, zusätzliche Mittelzusagen für die »Sicherheitskooperation« und vor allem handfeste Drohgebärden: Die EU insgesamt und insbesondere Italien fährt derzeit ein beachtliches Arsenal an Druckmitteln auf, um Tunesien zu einer noch engeren Kooperation in der Abschottungspolitik zu drängen. Erst am Montag reisten deshalb Italiens Innenministerin Luciana Lamorguez, der italienische Außenminister Luigi Di Maio und die EU-Kommissare Ylva Johansson und Oliver Varhelyi zu Gesprächen nach Tunis. Im Rahmen des Besuches machten sie unmissverständlich klar, was sie von Tunesien in Zukunft erwarten: eine stärkere Kontrolle der tunesischen Küste, um Abfahrten »irregulärer Migranten« zu verhindern, sowie die uneingeschränkte Kooperation tunesischer Behörden bei der Rücknahme von Tunesiern, die »illegal« in die EU eingereist sind (erschienen in junge Welt am 20.8.2020).
Neben einem Empfang bei Staatspräsident Kaïs Saïed stand auch eine Arbeitssitzung mit dem designierten neuen Regierungschef Hichem Mechichi auf dem Programm der Delegation. Das bisher einzige konkrete Ergebnis der Treffen ist eine Zusage der EU, Tunesiens Küstenwache zusätzliche zehn Millionen Euro für die Anschaffung neuer Patrouillenboote und weiterer Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Dennoch ist der Tunis-Besuch an Symbolik kaum zu überbieten, ist er doch der bisherige Höhepunkt einer seit Wochen anhaltenden Charme- und Drohoffensive gegenüber Tunesien, mit der Brüssel und Rom das Land dazu drängen wollen, seine Grenzkontrollpolitik im Sinne der EU weiter zu verschärfen.
Italiens Innenministerin war daher bereits Ende Juli schon einmal nach Tunis gereist. Unmittelbar darauf hatte Außenminister Di Maio unverhohlen damit gedroht, bereits zugesagte Hilfsgelder in Höhe von 6,5 Millionen Euro einzufrieren, wenn die tunesische Regierung nicht umgehend konsequenter gegen die »irreguläre Migration« vorgehe. Grund für die schon seit Wochen bemerkenswert aggressiv vorangetriebenen Vorstöße der EU und Italiens ist die zuletzt stark angestiegene Zahl von Flüchtlingen, die von Tunesien aus in See stechen und nach Italien gelangen. Zwischen Januar und August waren mehr als 15.000 Menschen »irregulär« in Italien angekommen, mehr als 42 Prozent davon stammen aus Tunesien. Auch deshalb behauptete Lamorguez während ihres Besuches in Tunis, die Bemühungen des Landes, die Migration zu bekämpfen, seien »unzureichend«.
Hintergrund der verstärken Flüchtlingsbewegungen aus Tunesien ist vor allem die heftige Wirtschaftskrise, die dem Land bereits seit Jahren zu schaffen macht und durch die Coronapandemie noch zusätzlich verschärft wurde. Beschränkungen im Alltag und Grenzschließungen haben den für die Wirtschaft extrem wichtigen Tourismussektor praktisch komplett zum Kollabieren gebracht. Seit Ausbruch der Pandemie stieg die Arbeitslosigkeit im Land deutlich an.
Unklar bleibt, wie empfänglich Tunesiens Staatsführung für den Druck aus Europa ist. Präsident Saïed betont seit Wochen, der Sicherheitsansatz sei nicht ausreichend, um die »irreguläre Migration« wirksam zu bekämpfen. Kritik an der EU und ihrer Abschottungspolitik in Nordafrika kommt derweil aus der Bevölkerung. Die Menschenrechtsorganisation FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte) verurteilte den Druck aus Europa zuletzt mehrfach scharf und forderte am Montag in einem offenen Brief an Präsident Saïed eine Korrektur der Beziehungen zur EU in Sachen Migrationspolitik.
Die Organisation kritisierte zudem die von Italien durchgeführten erzwungenen Abschiebungen tunesischer Bürger, die deren Rechte und internationale Konventionen verletzten. Rom hatte am 10. August die im März coronabedingt vorerst eingestellten wöchentlichen Abschiebeflüge von Palermo nach Enfidha wiederaufgenommen. FTDES-Präsident Abderrahman Hedhili bezeichnete die Rückführungspolitik der EU auf einer Pressekonferenz in Tunis vergangene Woche als »ernsthafte Bedrohung von Tunesiens Souveränität und den Rechten von Migranten«.
© Sofian Philip Naceur 2020
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