Nach mehr als elf Monaten coronabedingter Zwangspause meldet sich Algeriens Protestbewegung zurück. Anlässlich des zweiten Jahrestages des Aufstandes gegen Langzeitpräsident Abdelaziz Bouteflika zogen am Montag in zahlreichen Städten des Landes Zehntausende Menschen durch die Straßen und forderten lautstark eine »Republik«, die Freilassung politischer Gefangener und einen »zivilen Staat, keinen militärischen« (erschienen in junge Welt vom 24.2.2021).
Die mehrheitlich von Berbern bewohnte Provinz Kabylei, eine Hochburg der Opposition östlich von Algier, war einmal mehr das Epizentrum der Proteste. Doch auch in Algier und zahlreichen weiteren Städten wie Jijel, Adrar oder Sidi Bel Abbès demonstrierten jeweils mehrere Tausende gegen die seither vom Militär dominierte Regierung und machten damit unmissverständlich klar, dass die revolutionäre Stimmung im Land keineswegs verflogen ist.
Seit Monaten war unklar, ob die staatliche Repression die »Hirak« (Arabisch für »Bewegung«) genannte Protestbewegung endgültig in die Defensive gedrängt hatte. Am Montag hat sich nun gezeigt, dass die Bewegung lebendiger ist denn je. Nachdem die Studenten bereits am Dienstag nachgelegt und mehrere kleine Proteste initiiert hatten, wird für den kommenden Freitag abermals mit landesweiten Großdemonstrationen gerechnet.
Ausgebrochen waren die Massenproteste im Februar 2019. Die Kandidatur des früheren Staatschefs Bouteflika für die im April 2019 geplante Präsidentschaftswahl hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach ersten Spontanprotesten in der Kabylei und in Ostalgerien zogen am 22. Februar 2019 landesweit erstmals Hunderttausende Menschen gleichzeitig durch die Straßen und forderten Bouteflikas Rücktritt. Sechs Wochen später reagierte die Regierung und zwang den seit 1999 amtierenden Staatschef zum Rücktritt.
Doch die Proteste gingen weiter, denn das Militär hatte die Macht übernommen und setzt seither alles daran, den Hirak auszubremsen. Die extrem heterogene und konsequent friedlich agierende Bewegung gab sich jedoch mit den von der Armeeführung durchgedrückten kosmetischen Personalwechseln an der Staatsspitze nicht zufrieden und versucht seither auch, die Macht des Militärapparats zu brechen. Entsprechend wurde bis zum Ausbruch der Covid-19-Krise weiterdemonstriert.
Nachdem der Hirak im März 2020 seine Proteste nach 13 Monaten ununterbrochener landesweiter Massenmobilisierung vorläufig auf Eis legte, um der Pandemie nicht weiter Vorschub zu leisten und Diskreditierungsversuchen des Regimes zuvorzukommen, intensivierten die Behörden die Repressalien. Verhaftungen, Gerichtsprozesse und Haftstrafen gegen Aktivisten, Oppositionelle und Journalisten waren seither an der Tagesordnung. Angesichts der Pandemie waren dem Hirak jedoch die Hände gebunden. Mehrere Versuche, die Proteste wiederzubeleben und damit den Druck auf das Regime zu erhöhen, schlugen fehl. Bis jetzt.
Der Ende 2019 in einem von Manipulationsvorwürfen überschatteten Urnengang neu »gewählte« Präsident Abdelmadjid Tebboune versuchte zwar, vor den Montagsprotesten die Gemüter zu beruhigen und ließ vergangene Woche Dutzende politische Häftlinge frei, darunter den seit elf Monaten inhaftierten Journalisten Khaled Drareni. Doch das Manöver schlug fehl. Die Bewegung meldete sich eindrucksvoll zurück. Dem Land steht nun ein neues Kräftemessen bevor.
Professor Rachid Ouaissa von der Universität Marburg wies derweil in einem von der Aktivistengruppe »Hirak Berlin« organisierten Webinar am Sonntag darauf hin, dass die Teile des Regimes, die vor gewaltsamen Mitteln nicht zurückschrecken, zuletzt wieder stärker geworden seien. Die auch von deutschen Unternehmen hochgerüstete algerische Polizei könnte demnach künftig deutlich ruppiger gegen die friedlichen Proteste vorgehen und versuchen, eine gewaltsame Eskalation des Konfliktes zu provozieren. Algerien stehen unruhige Zeiten bevor.
© Sofian Philip Naceur 2021