Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegner der Muslimbrüder wurden am Samstagmorgen in Alexandria mindestens acht Menschen getötet. An der Rabaa-Moschee in Nasr City in Ost-Kairos, wo Anhänger der Muslimbrüder seit Wochen für die Widereinsetzung des Anfang Juli von der Armee abgesetzten Mohamed Mursi protestieren, wurden bei Ausschreitungen zwischen ihnen und der Polizei mindestens 64 Menschen getötet, die Bruderschaft spricht von 120 Toten. Sicherheitskräfte setzten Tränengas und offenbar scharfe Munition ein. Innenminister Mohamed Ibrahim hatte vorzeitig angekündigt die Sitzblockade „mit legalen Mitteln“ auflösen zu lassen, sollten sich Mursis Anhänger weigern abzuziehen. Er dementierte die Vorwürfe die Polizei hätte scharfe Munition gegen die Demonstranten eingesetzt. Inzwischen verstärkt das Innenministerium die Präsenz seiner Einsatzkräfte nahe der Universität von Kairo in Giza. Auch hier hatte es in den letzten Wochen immer wieder teils gewalttätige Proteste der Mursi-Anhänge gegeben. Die Polizei räumt auf, während sich die Armee feiern lässt. Sie hatte zuletzt ihre Präsenz in den Straßen erhöht, Dutzende Panzer ins Stadtzentrum von Kairo verlegt und Patrouillen von Militärhelikoptern über der Stadt intensiviert. An Zufahrtstraßen nach Kairo wurden Militärcheckpoints errichtet und Kampfpanzer postiert. Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi hatte letzte Woche die Menschen aufgerufen auf die Straße zu gehen und sich mit Armee und Übergangsregierung solidarisch zu erklären und dem Militär ein „Mandat“ zur Bekämpfung von „Gewalt und Terrorismus“ zu geben (erschienen in Junge Welt am 29.7.2013).
Hunderttausende folgten am Freitag seinem Aufruf, zogen zum Tahrir-Platz in Kairo und feierten die Armee. Auf dem Tahrir ließen sich Demonstranten vor Panzern fotografieren und schwenkten Bilder Al-Sisis. Vergessen scheint die Polizeigewalt unter dem Zepter der Generäle. Die Glorifizierung der Armee erreicht derzeit ungeahnte Höhen. Die Generäle taktieren geschickt und haben aus ihren Fehlern gelernt, als sie nach dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 schon einmal interimsmäßig die Exekutive übernahmen und damit zur Zielscheibe von Oppositionsprotesten wurden. Diesmal stellte sich das Militär gleich zu Beginn der Massendemonstrationen gegen Mursi auf die Seite der Regierungsgegner und präsentiert sich als revolutionäre Kraft. „Die Armee will, dass das Volk ihr in die Straßen folgt, und das nur ein Jahr nachdem wir „Nieder mit der Militärherrschaft“ gerufen haben“, heißt es aus Reihen der Revolutionären Sozialisten, die zu Gegenprotesten aufgerufen haben. Der Aufruf Al-Sisis sei eine Farce, man werde keine neuerliche Militärherrschaft mit der Teilnahme an diesen Protesten legitimieren und der Armee keinen Blankoscheck für Gewalt ausstellen. Nicht viele Menschen schlossen sich diesen Protesten an, kritische Töne gegenüber der Armee sind derzeit kaum zu hören.
Seit der Absetzung Mursis gehen Armee und Justiz verstärkt gegen die Muslimbrüder vor. Die Verhaftungswelle gegen ihre Führungskader und die Niederschlagung ihrer Proteste hat sie nach dem einjährigen „Experiment Mursi“ politisch entmachtet. Die Muslimbrüder sind den Aufforderungen die Proteste in Nasr City unverzüglich zu beenden nicht gefolgt und der Innenminister sieht sich nun legitimiert „die öffentliche Ordnung“ wiederherzustellen. So unfähig sich Mursis Regierung gezeigt hat Ägypten zu regieren, haben seine Anhänger nicht ganz unberechtigt Angst vor einer neuerlichen Verfolgungswelle gegen sie wie schon unter Mubarak. Armee und Muslimbrüder könnten aus der neuen Gewaltspirale politisches Kapital schlagen. Der Bruderschaft eröffnet sich durch das harte Eingreifen der Polizei die Gelegenheit zum Märtyrertum. Politisch entmachtet werden ihr ein Massaker und eine gewaltsame Unterdrückung neuen Aufwind verschaffen, nachdem die Bruderschaft zuletzt deutlich an Zustimmung in der Bevölkerung verlor. Das Militär setzt derzeit alles daran die Bruderschaft zu dämonisieren und bezeichnet sie als „Terroristen“, um sich selber als Beschützer Ägyptens vor einem radikalisierten politischen Islam zu präsentieren und damit ihre politischen Einfluss zu legitimieren.
© Sofian Philip Naceur 2013