Während die Staatskrise in Ägypten eskaliert, versucht die Staatsführung das Land politisch zu stabilisieren. Ägyptens übermächtiges Militär hatte vor einer Woche Staatspräsident Mohamed Mursi abgesetzt und die Verfassung annulliert. Der von der Armee eingesetzte Übergangspräsident Adly Mansour kündigte an innerhalb von sechs Monaten Parlamentswahlen durchführen und zuvor die Verfassung überarbeiten und per Referendum verabschieden zu wollen. Mansour legte zudem eine Verfassungserklärung vor, die ihm als Staatspräsident und der Übergangsregierung legislative Vollmachten ausstellt, bis eine neue Verfassung in Kraft tritt. Mansours ambitionierter Fahrplan für einen politischen Übergang wurde nur wenige Stunden nach den Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Mursis, bei denen mindestens 51 Demonstranten getötet wurden, lanciert. Die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), sprechen von einem Massaker und einem Angriff der Armee auf eine friedliche Protestversammlung. Die Armee behauptet Demonstranten hätten versucht das Gelände der Republikanischen Garde zu stürmen (in redigierter Fassung erschienen in Die Wochenzeitung vom 11.7.2013).
Nach tagelangem Tauziehen wurde am Dienstag Hazem El-Beblawi, ein liberaler Ökonom aus der Sozialdemokratischen Partei, zum neuen Premierminister ernannt. Die Ernennung des ehemaligen Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde und Kopfes der liberalen Opposition Mohamed El-Baradeis scheiterte wenige Tage zuvor am Widerstand der Salafisten. Deren politischer Arm, die Partei „Das Licht“, hatte sich erst am Dienstag aus Protest gegen die Gewalt der Armee gegen die Anhänger Mursis aus den Verhandlungen über die Übergangsregierung zurückgezogen und damit offenbar den Weg frei gemacht für einen Kandidaten aus dem liberalen Lager.
Doch wehren sich viele Menschen am Nil gegen diese vereinfachte Interpretation der Ereignisse. Für die Muslimbrüder war der Sturz der demokratisch legitimierten Regierung ein verfassungsfeindlicher Akt und eine politische Entmachtung durch ein nicht legitimiertes Staatsorgan. Bruderschaft und FJP sind damit über Nacht entmachtet worden und müssen um ihren politischen Einfluss auf Ägyptens Staatsorgane fürchten. Doch ist der Begriff „Staatsstreich“ für die Machtübernahme der Armee irreführend und wird den tatsächlichen Veränderungen an der Staatspitze Ägyptens nicht gerecht.
Die ägyptische Armee ist faktisch seit dem Militärputsch 1952 ununterbrochen an der politischen Macht beteiligt und seither die einflussreichste Fraktion innerhalb der ägyptischen Staatselite. Alle Vorgänger Mohamed Mursis an der Staatsspitze seit 1952 waren ranghohe Vertreter der Streitkräfte. Der 2011 gestürzte Präsident Hosni Mubarak war vor seiner Amtsübernahme 1981 Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Das Militär ist ein wichtiger wirtschaftlicher Akteur und kontrolliert dank Import- und Exportmonopolen Teile des Außenhandels. Der Staat finanziert sich nicht nur über Steuergelder, sondern verfügt über andere Kapital- und Geldquellen, wie die Einnahmen aus dem Suez-Kanal, die jährlich fünf Milliarden US-Dollar in den Staatssäckel spülen, und die jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar Militärhilfen aus den USA, die seit dem Friedensvertrag Ägyptens mit Israel 1979 fließen und direkt der Armee zukommen. Die an den Friedensvertrag gekoppelte Militärhilfe erlaubt es der Armee vom Staatsbudget unabhängig zu bleiben und eine finanziell unabhängige Elite in Ägyptens Machtapparat zu formieren. Diese Staatselite mit der Armee als mächtigster Fraktion konnte die politische Macht monopolisieren, braucht jedoch wenn sie an der Macht bleiben will stabile politische Verhältnisse und kann gezwungen werden sich neu zu formieren und politische Interessengruppen aufzunehmen oder abzustoßen. Eine solche Transformation durchläuft derzeit Ägyptens Staatsklasse. Nach dem Sturz Mubaraks verlor seine Nationaldemokratische Partei (NDP) die Unterstützung der Armee. Die NDP als ziviles Aushängeschild der Staatselite war abgewirtschaftet und wurde von den Militärs fallengelassen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 entschied sich die Bevölkerung gegen Ahmed Shafiq, den letzten Premierminister Mubaraks und Favorit der Generäle für das Präsidentenamt, und wählte Mohamed Mursi ins höchste zivile Staatsamt. Die Armee war gezwungen eine neue politische Kraft eingeschränkt in den Machtapparat zu integrieren – zumindest vorläufig wie sich zeigte.
Die Armee sicherte sich auch nach Mursis Amtsübernahme Einfluss auf das Regierungsgeschäft. Das Militär stellte erneut den Verteidigungsminister und versuchte von Beginn an den Einfluss der FJP einzuschränken.Bei der Besetzung von Gouverneursposten hielten sich FJP-Getreue und Vertreter des Sicherheitsapparates stets die Waage. Mursi versuchte weiterhin Schlüsselposten im Staatsapparat mit Verbündeten zu besetzen, um sich eine Machtbasis aufzubauen. Die Generäle räumten Mursi zunächst gewisse Freiheiten ein, da sie nach der Übergangsperiode möglichst rasch aus der politischen Schusslinie heraustreten wollten. Nach der Revolution 2011 hatte die Armee das Land bis zum Amtsantritt Mursis autokratisch regiert und immer wieder mit Gewalt Demonstrationen niedergeschlagen. Der Zorn der Bevölkerung richtete sich damals zunehmend gegen die Militärs.
Die Armee stand den Muslimbrüdern und Mohamed Mursi von Beginn an skeptisch gegenüber und was zunächst aussah wie eine Machtteilung, stellte sich als vorübergehendes Zweckbündnis heraus. Mit der Kompromisslosigkeit, mit der FJP und Salafisten 2012 die neue Verfassung entwarfen und per Referendum durchpeitschten sowie Mursis verfehlter Wirtschaftspolitik brachte der Staatspräsident schon nach einem Amtsjahr weite Teile der Bevölkerung gegen sich auf. „Demokratisch gewählt und demokratisch abgelehnt“ sagt ein Demonstrant am Tahrir-Platz in Kairo über Mursis Sturz. „Die Armee hat gezeigt, dass sie die Forderungen der Straße gehört hat und dass ihre Waffen die unseren sind. Aber das war kein Militärputsch. Die Menschen auf Ägyptens Straßen haben ihn gestürzt und die Armee gezwungen ihn abzusetzen“, sagt er weiter. In der Tat hat die Armee den Präsidenten abgesetzt, saß aber als mächtigster Akteur der Staatselite bereits an den Schaltstellen der Macht. Die Massenproteste gegen den Präsidenten am 30. Juni haben die Armee gezwungen zu intervenieren. Sie hat ihren informellen Einfluss auf die Exekutive gegen direkte Regierungsgewalt eingetauscht und mit der Ernennung Mansours versucht schnell im Hintergrund zu verschwinden, um zu verhindern sich durch eine erneute Regierungsübernahme wie 2011 den Unmut der Bevölkerung zuzuziehen.
© Sofian Philip Naceur 2013