Massenproteste der Regierungsgegner gegen Ägyptens umstrittenen Präsidenten Mohamed Mursi und den wachsenden politischen Einfluss der Muslimbrüder, eine Unterschriftenkampagne, die den Rücktritt des Staatschefs und vorgezogene Neuwahlen fordert, ein Ultimatum der Armee, das als Putschdrohung verstanden wurde und ein Staatspräsident, der wieder und wieder seine Legitimität als demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt betont und einen Rücktritt kategorisch ablehnt. Ägypten kommt nicht mehr aus den Schlagzeilen und die Revolution ist lebendiger denn je. Im gesamten Land bleiben Geschäfte geschlossen, die Menschen schließen sich zu Millionen den Demonstrationen an. Das chronische Verkehrschaos in der Hauptstadt ist wie weggeblasen. Dort wo man sonst stundenlang im Stau feststeckt, sind die Straßen frei. Auf der Autobahn nach Heliopolis, dem Sitz des Präsidentenpalastes und Schauplatz der Oppositionskundgebungen, sind nur Fahrzeuge unterwegs, die den Amtssitz Mursis ansteuern. Geschmückt mit Ägyptens Nationalfahnen, einem Symbol der Revolution, und lautstark hupend bewegen sich überall Menschen zu den friedlichen Protesten. Das Motto der Revolution „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ ist allgegenwärtig (erschienen in Neues Deutschland vom 4.7.2013).
Die Stimmung am Tahrir-Platz im Herzen Kairos und in Heliopolis ist ausgelassen, aber angespannt. Viele sind schier überwältigt über die neuerliche revolutionäre Dynamik auf den Straßen. Dennoch herrscht Unsicherheit über die Perspektive einer erneuten Machtübernahme der Streitkräfte. Immer wieder brandete vor dem Präsidentenpalast Jubel auf, wenn die seit Sonntag pausenlos über Kairo patrouillierenden Militärhubschrauber die Menge überflogen. Kurz nachdem die Armee am Montag das Ultimatum verlesen hatte, das alle politischen Fraktionen aufrief innerhalb von 48 Stunden „die Forderungen des Volkes zu erfüllen“ begann ein stundenlanges Hupkonzert in der Hauptstadt, nicht wenige erhoffen sich von Mursis Absetzung durch die Armee Stabilität und geordnete Neuwahlen.
Dienstagabend wurde es zeitweilig still in Kairo. Mursi hielt eine Ansprache im Staatsfernsehen, betonte er sei demokratisch gewählt und der rechtmäßige Präsident, appellierte an das Militär das Ultimatum aufzuheben. Er werde sich dem Druck nicht beugen. Gebannt verfolgten die Menschen die Worte des angezählten Staatschefs. Aus unzähligen Häusern war lautstark Mursis Stimme zuhören. Sofort nach Ende der Übertragung strömten Tausende aus ihren Häusern und den Kaffees und zogen zum Tahrir, um sich den Kundgebungen anzuschließen. „Auch wenn er stur immer und immer wieder auf die demokratische Wahl verweist, Mursi hat das Land politisch und wirtschaftlich ruiniert. Er muss gehen“, sagt der Obstverkäufer Ashraf Omar kurz nach Mursis Rede. Viele Anhänger des Präsidenten oder einfache Menschen, die sich endlich wieder stabile Verhältnisse wünschen, um arbeiten zu können, verweisen auf den Konsens der politischen Parteien vor der Wahl. „Wir haben uns für demokratische Wahlen entschieden. Dann sollten wir das Ergebnis auch akzeptieren lernen und Mursi seine Amtszeit zu Ende regieren lassen. Sollen wir etwa einmal pro Jahr den Präsidenten stürzen wenn uns seine Politik doch nicht gefällt?“, so ein Teilnehmer einer Pro-Mursi Kundgebung.
Wie zu erwarten war, kam es auch am Dienstag wieder zu Ausschreitungen. Nahe der Universität von Kairo in Giza kam es zu heftigen Ausschreitungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten, 18 Menschen sollen getötet worden sein. Noch während der Auftaktdemonstration am Sonntag vor dem Präsidentenpalast sagte Fady Nader Adly, ein junger Ingenieur aus Heliopolis, es werde heute zu keinerlei Gewalt kommen, die Muslimbrüder würden sich bei dieser Menschenmasse schlicht nicht näher heran trauen. Dennoch verwundert es kaum, dass die Bruderschaft inzwischen vermehrt auf die Straße geht und zu Solidaritätsproteste abseits der Großkundgebungen der Opposition aufruft, schließlich droht sie die grade erst gewonnene politische Macht wieder zu verlieren. Ausschreitungen wie diese jedoch sind derzeit die Ausnahme. Während die westliche Presse einem „Bürgerkrieg“ das Wort redet, ist Ägyptens Bevölkerung elektrisiert von der Macht der Straße und kämpft euphorisch und mit Überzeugung für wirtschaftliche Teilhabe, politische Freiheiten und soziale Gerechtigkeit.
© Sofian Philip Naceur 2013