Der anhaltende Machtkampf zwischen Regierungslager und Opposition in Ägypten verschärft sich. Die Massenproteste der Regierungsgegner, bei denen seit Sonntag Millionen Menschen gegen Staatspräsident Mohammed Mursi demonstrieren, haben die Armee auf den Plan gerufen. Am Montag nachmittag stellte die Militärführung „allen politischen Kräften“, ein Ultimatum. Schafften es Regierung und Opposition innerhalb von 48 Stunden nicht, die Krise zu lösen und die „Forderungen des Volkes zu erfüllen“, werde die Armee einen Fahrplan für die politische Zukunft des Landes vorlegen. Mursi wies das Ultimatum in der Nacht zu Dienstag zunächst zurück. Am gestrigen Nachmittag traf sich der Präsident dennoch mit Armeechef und Verteidigungsminister General Abdel Fattah Al-Sisi, um „über die aktuellen politischen Entwicklungen zu beraten“ (erschienen in Junge Welt am 3.7.2013).
Zwar betonte Armeesprecher Ahmed Ali, daß ein Putsch keine Option sei. Doch das Militär hält sich alle Optionen offen. Bereits nach der Revolution 2011, die den Autokraten Hosni Mubarak zum Sturz brachte, hatte die Armee die Macht übernommen. Der Oberste Militärrat (SCAF) bezeichnete das damals als vorübergehende politische Notwendigkeit, um die Stabilität Ägyptens zu garantieren. Faktisch war es jedoch ein versteckter Staatsstreich. Bis zu Mursis offizieller Übernahme des Präsidentenamtes im Juli 2012 regierte der SCAF mit harter Hand und schlug Demonstrationen und Streiks wiederholt mit Gewalt nieder. Trotzdem sind viele Menschen einer erneuten Machtübernahme der Streitkräfte nicht abgeneigt. Die Armeehubschrauber, die am Montag über den Tahrir-Platz flogen, wurden von vielen Demonstranten mit Jubel begrüßt. Zahlreiche Oppositionsparteien lehnen eine Machtübernahme der Armee jedoch strikt ab. Die „Front des 30. Juni“, ein Aktionskomitee aus Parteien, Gewerkschaften und Jugendgruppen, die für die Proteste mobilisiert hatten, rief derweil zu zivilem Ungehorsam und zum Generalstreik auf. Man werde die Demonstrationen erst beenden, wenn Mursi zurückgetreten sei.
Der Präsident hält an seinem Amt fest, mußte aber mit dem Rücktritt von Außenminister Mohammed Kamel Amr am Dienstag einen weiteren schweren Rückschlag hinnehmen. Der gemäßigte Technokrat ist bereits das sechste Kabinettsmitglied, das seit Montag sein Amt niedergelegt hat. Zudem erklärte das höchste Kassationsgericht die Ernennung des Generalstaatsanwalts Talaat Abdullah für ungültig. Mursis Macht bröckelt. Selbst die salafistische Partei „Das Licht“, ein politischer Verbündeter und Mehrheitsbeschaffer seiner Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), fordert inzwischen Neuwahlen, um einen „Bürgerkrieg“ zu verhindern. Die Partei, die sich weder an Protesten gegen die Regierung noch Solidaritätskundgebungen für Mursi beteiligt hatte, hofft, der gemäßigt islamistischen FJP bei den nächsten Wahlen Stimmen abzujagen.
Der „Bürgerkrieg“ droht mehr denn je. Die Mursi unterstützenden Muslimbrüder haben ihrerseits angekündigt, verstärkt auf die Straße zu gehen, was den Gewaltkreislauf weiter anheizen dürfte. Augenzeugen berichteten der Nachrichtenagentur Reuters bereits von »fortwährenden Schußwechseln« zwischen Regierungsanhängern und Gegnern in der Stadt Suez. Seit Sonntag sind bei den Protesten mindestens 16 Menschen ums Leben gekommen und 800 verletzt worden.
© Sofian Philip Naceur 2013