Hunderttausende Menschen sind gestern allein in Kairo auf die Straße gegangen, um gegen Ägyptens umstrittenen Staatspräsidenten Mohamed Mursi zu demonstrieren. Proteste gab es auch in Port Said, Suez, Alexandra und in Städten im Nil-Delta. Anlässlich des ersten Jahrestages von Mursis Amtsantritt will die liberale und linke Opposition, aber vor allem die Bevölkerung, ein Zeichen setzen und ihrer Unzufriedenheit mit der Politik von Regierung und Staatspräsident Ausdruck verleihen. Bereits seit zwei Wochen brodelt es im Land. Gegner und Anhänger des Präsidenten, der den Muslimbrüdern nahe steht, organisierten zuletzt zahlreiche Kundgebungen im ganzen Land. Die Preise für Lebensmittel und Treibstoff sind derweil explodiert, die Nervosität der Menschen steigt (erschienen in Junge Welt am 1.7.2013).
Die von unabhängigen Aktivisten ins Leben gerufene Rebell-Kampagne, die den Rücktritt Mursis und vorgezogene Neuwahlen fordert, verkündete auf einer Pressekonferenz am Samstag 22 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben. Die Kampagne, die von zahlreichen Parteien der Opposition unterstützt wird, war ein entscheidender Motor für die Mobilisierung der regierungskritischen Bevölkerung. Die Kampagenleitung rief dazu auf keinerlei Parteifahnen auf den Demonstrationen zu schwenken, sondern einzig Ägyptens Flagge. Die Stimmung im Land kippt in Richtung einer neuen Runde der Revolution. Die politische Opposition verfolgt offenbar die Strategie ihre Unstimmigkeiten untereinander hinten an zu stellen und vorerst gemeinsam gegen die Regierung zu kämpfen.
Derweil meldete das ägyptische Gesundheitsministerium bei Protesten in Alexandria, Port Said und Mansoura am Freitag seien insgesamt sieben Menschen getötet und über 600 verletzt worden. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), der politische Arm der Muslimbruderschaft, beschuldigte die Opposition für die Eskalation der Gewalt verantwortlich zu sein und rief ihre Anhänger dazu auf den Präsidenten zu unterstützen. Vor einer Woche versammelten sich rund 50.000 Anhänger Mursis in Nasr City, einem Stadtteil im Osten Kairo. An gleicher Stelle findet seit Freitag erneut ein Sit-In von tausenden Unterstützern des Präsidenten statt. Man werde bleiben bis die Opposition aufgebe. Hunderttausende Menschen versammelten sich unterdessen gestern in mehreren Stadtteilen Kairos, unter anderem in Mohandesin, Shubra und Saray El-Kouba, um zum Tahrir-Platz im Stadtzentrum und zum Präsidentenpalast zu ziehen. Die Sicherheitskräfte sind in höchster Alarmbereitschaft und verschärften ihre Präsenz rund um staatliche Gebäude. Am Präsidentenpalast in Heliopolis wurde gar Mauern aus Steinblöcken aufgebaut, um eine Erstürmung zu verhindern. In Suez ließ das Militär Flugblätter verteilen, auf denen es davor warnt vor staatliche Gebäude und Gefängnisse zu ziehen. Wortmeldungen aus den Reihen der Armee sind indes widersprüchlich, lassen aber darauf schließen, dass sie mit aller Härte reagieren werden, wenn ihren die Demonstranten zu nahe kommen.
Zusammenstöße zwischen Gegnern und Anhängern des Präsidenten sind zudem wahrscheinlich. Der Präsidentenpalast ist nicht weit entfernt von der Rabaa-Moschee, wo seit Freitag Anhänger Mursis ausharren. Schon im Dezember war der Präsidentenpalast Schauplatz brutaler Übergriffe zwischen Gegnern und Anhängern des Präsidenten, als die Opposition friedlich vor den Palast zog, um gegen die im Eiltempo durchpeitschte neue Verfassung Ägyptens zu demonstrieren.
© Sofian Philip Naceur 2013