Zehntausende Menschen folgten am Freitag dem Aufruf der Muslimbrüder und 16 islamistischer Gruppen zu einer Solidaritätskundgebung für Ägyptens Präsidenten Mohamed Mursi und versammelten sich im Stadtteil Nasr City im Osten Kairos. Ein den Muslimbrüdern nahe stehender TV-Sender berichtete von zwei Millionen Teilnehmern, mehr als 50.000 waren jedoch nicht vor Ort. Regierung und Präsident stehen innenpolitisch zunehmend unter Druck und wollten eine Woche vor den angekündigten Massenprotesten der Opposition anlässlich des Jahrestages von Mursis Amtsantritt mit der Großkundgebung Stärke demonstrieren (erschienen in Junge Welt am 25.6.2013).
Die Opposition mobilisiert seit Wochen für die Demonstration am 30. Juni und forderte Mursi wiederholt zum Rücktritt auf. Dieser nannte Rücktrittsforderungen „absurd und illegal“, er werde sich einem demokratischen Votum bei den für 2016 geplanten Präsidentschaftswahlen beugen, sollte er abgewählt werden. Seit Monaten sammeln Oppositionsaktivisten im Rahmen der Rebell-Kampagne Unterschriften für Mursis Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Letzte Woche gab die Kampagnen-Leitung bekannt man habe das erklärte Ziel von 15 Millionen Unterschriften erreicht. Der von den Muslimbrüdern angeführte islamistische Block startete im Mai eine Gegenkampagne und will bisher 11 Millionen Unterschriften gesammelt haben.
Wie oft bei Protesten des islamistischen Blocks in Kairo sind erneut tausende Anhänger des Präsidenten aus allen Landesteilen mit Bussen in die Hauptstadt transportiert worden. In Nasr City waren ganze Straßenzüge mit Bussen zugeparkt. Kairo gilt als Hochburg der Opposition, die Bruderschaft nutzt daher bei Kundgebungen in Kairo ihren hohen Organisationsgrad in der Provinz und schafft ihre Anhänger aus ganz Ägypten heran. Die Demonstration fand unter dem Banner „Nein zu Gewalt“ statt. Dennoch waren mit Gummiknüppel und Helm ausgestattete Männer an den Zufahrtsstraßen postiert. Auf die Frage wie dies mit dem Motto der Kundgebung zusammenpasse, antwortete ein Behelmter man müsse bei möglichen Zusammenstößen mit der Opposition eigene Anhänger verteidigen. Schließlich ging zeitgleich die Opposition auf die Straße. Eine Demonstration fand vor dem Verteidigungsministerium im nahe gelegenen Stadtteil Heliopolis statt. Hier forderten Teilnehmer die Armee dazu auf die Macht zu übernehmen. Führende Oppositionelle lehnten dies kategorisch ab.
Auch in anderen Städten Ägyptens wurde gegen die Regierung protestiert. In Alexandria, Fayoum und Mahalla, einer Industriestadt im Nil-Delta, kam es zu Ausschreitungen zwischen Gegnern und Unterstützern Mursis. Der Generalsekretär des politischen Arms der Bruderschaft, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), Hussein Ibrahim machte führende Oppositionelle für diesen Gewaltausbruch verantwortlich. Politische Forderungen der Opposition seien nicht politisch motiviert, sondern vielmehr Aufrufe zu Gewalt und Vandalismus gewesen.
Am Rande der Kundgebung in Nasr City sagte Ismail Said, ein pensionierter Oberst der Luftwaffe aus Ismailija und Teilnehmer der Demonstration, Ägypten sei auf dem Pfad der Demokratie angekommen. Mursi sei das Ergebnis der Revolution und solle seine Amtszeit zu Ende regieren. Ahmed Mohamed, ein Lehrer aus Mansura, sagte, die Rebell-Aktivisten würden das Land destabilisieren und sollten die Wahlen abwarten, wenn sie mit Mursis Politik nicht zufrieden seien. Scharf verurteilte er die Streik- und Protestbewegung, die Ägypten seit der Revolution 2011 lahm gelegt hätte. In diesem Unruhezustand könne die Regierung nicht an einer Verbesserung der Lebensumstände arbeiten. Fakt ist jedoch: Mursi und FJP führen seit ihrer Machtübernahme konsequent die neoliberale Politik des alten Regimes fort, die seit den 1980ern weite Teile der Bevölkerung in Armut getrieben und überhaupt erst die Basis für das massenhafte Aufbegehren der Menschen gelegt hat.
© Sofian Philip Naceur 2013