Von Annette Groth und Sofian Philip Naceur
Immer mehr ostafrikanische Flüchtlinge geraten auf dem Sinai in die Fänge von Menschenhändlern. Ägypten und Israel wollen mit dem Problem nichts zu tun haben.
»Alles was ich möchte, ist so schnell wie möglich wieder weg von hier zu kommen«, sagt Yohannes. »Ich wollte nie nach Israel oder auf den Sinai, aber dann bin ich entführt worden.« Der Mittzwanziger stammt aus Asmara, der Hauptstadt Eritreas. An diesem Tag im Dezember 2012 sitzt er zusammen mit rund 40 anderen Flüchtlingen in einem Gefängnis in Al-Arish, der größten Stadt im Nord-Sinai, und wartet auf seine Abschiebung. Vor zwei Jahren war er aus seiner Heimat geflüchtet, aus wirtschaftlichen Gründen, wie er sagt. Rund ein Jahr lang lebte Yohannes – er will nur seinen Vornamen nennen – in einem der Flüchtlingslager in der Region Kessala im Osten des Sudan. Sein Ziel war Sudans Hauptstadt Khartum, dort wollte er Arbeit suchen. Doch es kam anders als geplant (erschienen bei Zenith Online).
Wie viele seiner Mitgefangenen in Al-Arish wurde er entführt, an Schlepper verkauft und gegen seinen Willen auf den Sinai gebracht. Hier ging der Albtraum erst richtig los. Eingesperrt und gefesselt, war Yohannes rund fünf Monate lang in der Gewalt von Menschenhändlern in einem der berüchtigten Foltercamps. Täglich wurden er und seine Mitgefangenen misshandelt. Sein Rücken ist übersät mit Narben.
Verbrennungen, Elektroschocks, Schläge mit Eisenstangen und Vergewaltigungen sind in diesen Camps im Sinai an der Tagesordnung. Frauen leiden besonders unter der Brutalität der Erpresser. Die Entführer nutzen die Folter als Druckmittel, um höhere Lösegelder zu erpressen. Inzwischen verlangen sie bis zu 50.000 US-Dollar. Viele Flüchtlinge sind mittellos und werden gezwungen, Verwandte in Europa anzurufen. Sobald die Leitung steht, beginnt die Folter – die potentiellen Geldgeber im Ausland sollen die Schreie der Opfer hören. Wer das Geld nicht aufbringen kann, dem wird mit Organentnahme gedroht. Auch Yohannes bekam diese Drohungen zu hören: »Wenn du nicht zahlen kannst, verkaufe ich deine Organe. Geld bekommen wir so oder so, ob du stirbst oder nicht.« Yohannes konnte das Geld auftreiben und wurde freigelassen.
Viele Flüchtlinge berichten von solchen Drohungen. Die in Schweden lebende Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos geht davon aus, dass seit 2006 an die 4.000 Menschen die Foltercamps nicht überlebt haben. Immer wieder werden Leichen in der gebirgigen Sinai-Wüste gefunden, denen anzusehen ist, dass Organe entnommen wurden. Video- und Fotomaterial deutet darauf hin, dass das Ausweiden von Flüchtlingen keine Ausnahme ist. Ärzte aus Kairo sollen mit mobilen Kliniken auf dem Sinai operieren und die Organe dann in Ägyptens Hauptstadt verpflanzen. Lina Attalah, Chefredakteurin der ägyptischen Wochen- und Onlinezeitung Egypt Independent, kennt die Gerüchte, betont jedoch, es gebe bisher keine gesicherten Informationen: »Ich habe mit Schleppern auf dem Sinai gesprochen, die ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen von Folter und Menschenhandel erzählten. Organhandel haben meine Kontakte jedoch nie erwähnt«, sagt sie.
Der Sinai, bekannt für die Tourismushochburg Sharm El Sheikh und Traumstrände so weit das Auge reicht, ist zu einem rechtsfreien Raum geworden. Das schwer zugängliche Hinterland der Halbinsel befindet sich mittlerweile fest in den Händen von Drogenschmugglern, Waffenschiebern und Menschenhändlern. Die Regierung in Kairo hat längst keine Kontrolle mehr über die Provinz. Der Grund: Jahrzehntelang wurde die Region vernachlässigt. Während die Regierung die touristisch erschlossene Küste der Halbinsel wirtschaftlich förderte, wurde das Hinterland sich selbst überlassen.
»Das alte Regime hat sich nicht um den Sinai geschert. Für Mubarak war die Provinz nie Teil Ägyptens«, sagt Mostafa Azem, ein Imam aus der Grenzstadt Rafah. Die wirtschaftlich desolate Lage der Menschen auf dem Sinai sei ein Nährboden für die ausufernde Kriminalität. Drogenanbau und Menschenhandel sind inzwischen eine wichtige Einkommensquelle. Wenn neue Arbeitsplätze in der Provinz entstünden, könne man dem Menschenhandel die Basis entziehen, meint Azem. Viele Menschen verkauften ihre Waren an Schlepper, sie hätten keine andere Wahl. Azem versucht, unter den Beduinen gegen die Kriminellen und ihre Machenschaften mobil zu machen: »Wir müssen die Schlepper isolieren. Wenn Supermärkte, Apotheken und Automechaniker die Schlepper boykottieren, kappen wir ihre Versorgung.« Solange die Regierung wegsehe, hätten derartige Initiativen jedoch keinerlei Aussicht auf Erfolg. Die Schlepper seien schlicht zu gut bewaffnet.
Nach dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel 1979 zog Israels Armee von der Halbinsel ab und gab die Beute aus dem Sechstage-Krieg 1967 an Ägypten zurück. Teil des Abkommens war, dass Kairo kaum Sicherheitskräfte auf dem Sinai stationieren durfte. Das Militär ist jedoch an Stabilität auf dem Sinai interessiert, da die Armee zahlreiche Hotelketten besitzt und am Erdgasexport verdient. Die zahlreichen Anschläge auf die Gaspipeline, die Israel und Jordanien mit spottbilligem Erdgas versorgt, sowie der Rückgang des Tourismus auf dem Sinai in den vergangenen Jahren haben der Armee finanziell geschadet. Nach dem Anschlag auf einen ägyptischen Grenzposten im August 2012 hat die Regierung eine Militäroffensive im Nord-Sinai begonnen, musste jedoch nach Protesten der israelischen Regierung einen Teil der Truppen wieder abziehen. Darüber hinaus ist sie offenbar aber auch nicht gewillt, konsequent gegen die Menschenhändler und Attentäter vorzugehen.
Der Sinai ist zu einem Brennpunkt des internationalen Menschenhandels geworden. Die Händler auf der Halbinsel sind jedoch nur die Spitze des Eisberges. Involviert in die mächtigen Netzwerke sollen neben Beduinen im Sinai auch Nomaden in Ostafrika sowie Grenzbeamte in Eritrea, im Sudan und in Ägypten sein. Der Transfer der Lösegelder wird über ein Netzwerk von Kontaktpersonen im Ausland abgewickelt. Die Vereinten Nationen berichten von Mittelsmännern in Eritreas Botschaften in Ägypten und Kenia und der eritreischen Diaspora in Europa und Israel. Und sie nennen auch Namen: General Teklai Kifle gilt als Drahtzieher des Netzwerks in Eritrea.
Der Grund für den in den letzten Jahren stetig angeschwollenen Menschenhandel liegt am Ursprungsort der Migration. Eritrea ist eines der ärmsten Länder der Erde und eine Militärdiktatur. Seit Jahren jagt eine Hungersnot die nächste. Der Militärdienst ist verpflichtend für Männer und Frauen und wird teilweise auf unbegrenzte Zeit verlängert. Vergewaltigungen von Frauen und Todesfälle durch Folter sind überaus häufig. Nach Angaben der Vereinten Nationen fliehen jeden Monat bis zu 3.000 Menschen vor Armut und Staatsgewalt aus dem Land. Von Schleppern lassen sie sich über die Grenzen bringen. »Wenn der Massenexodus aus Eritrea anhält, lebt bald die ganze Bevölkerung im Ausland oder in Flüchtlingslagern«, sagt eine Mitarbeiterin einer NGO in Kairo.
Seit den Kooperationsabkommen zwischen Italien und Libyen 2007 und der militärischen Abschottung Europas gegen die sogenannte »illegale Migration« haben sich die Routen für Flüchtlinge aus Ostafrika verschoben. Als Folge der repressiven Einwanderungspolitik Europas fliehen mehr Menschen via Ägypten nach Israel. Bis zu 3.000 US-Dollar kostet der Transport auf den Sinai.
Doch viele Schlepper halten sich nicht an die Absprachen. Anstatt die Menschen an die Grenze zu bringen, entführen sie sie und versuchen, mehr Geld zu erpressen. Darüber hinaus werden eritreische Flüchtlinge direkt aus den Flüchtlingscamps in Äthiopien und im Sudan entführt. Viele Menschen müssen diese Camps regelmäßig verlassen, um Geld zu verdienen; so sind sie leichte Beute für die Menschenhändler. Die Entführten werden an Schlepper verkauft, welche Grenzbeamte bestechen, um die Flüchtlinge auf den Sinai schmuggeln zu können. Die Menschenrechtsaktivistin Estefanos hatte Kontakt zu Schleppern im Sinai. Sie zitiert einen der Menschenhändler mit den Worten, Shagarab – das größte Flüchtlingscamp des Sudan – sei »ein Markt, auf dem Menschen von einem Händler zum nächsten verkauft werden«. Der Mann habe jedoch auch gesagt: »Wenn das Geschäft in den Camps gestoppt wird, trocknet es auch auf dem Sinai aus.«
Estefanos vermutet, dass derzeit rund 1.000 Menschen von den Händlern auf der Halbinsel festgehalten werden. Angaben über die Anzahl der Menschen aus Ostafrika, die in Gefängnissen auf dem Sinai inhaftiert sind, liegen nicht vor. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht von rund 800 Menschen allein aus Eritrea aus, die dort in Polizeiwachen auf ihre Abschiebung warten. Das UNHCR hat keinerlei Zutritt zu den Gefängnissen. Obwohl Ägypten die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Zusatzprotokolle unterzeichnet und ratifiziert hat, ignoriert die Regierung ihre internationalen Verpflichtungen. Kairo gewährt Flüchtlingen und Migranten keinerlei Zugang zum Gesundheits-, Bildungs- oder Sozialsystem des Landes. Nicht einmal bei anerkannten Flüchtlingen kommt die ägyptische Regierung ihren Verpflichtungen nach. Hunderttausende Migranten sind obdachlos und der Willkür der Polizei ausgesetzt.
Die einzige Anlaufstelle für Flüchtlinge in Ägypten, um Aufenthaltspapiere und Asyl zu beantragen, sind die Vereinten Nationen. Kairo hat das gesamte Asylverfahren an das völlig überlastete UNHCR ausgelagert. Da keine ägyptische Behörde Aufenthaltsdokumente für Flüchtlinge ausstellt, sind die Menschen auf das Flüchtlingshilfswerk angewiesen. Allein die Registrierung kann bis zu vier Monate dauern, Asylanträge werden teilweise erst nach zwei Jahren bestätigt oder abgelehnt. In der Zwischenzeit können sich Migranten schlicht nicht ausweisen und sind der Willkür der ägyptischen Sicherheitskräfte ausgesetzt. Besserung ist nicht in Sicht, da auch die neue Regierung keine Anstalten macht, ihre Asylpolitik zu reformieren und das UNHCR für 2013 eine empfindliche Budgetkürzung von zehn Prozent hinnehmen muss.
Viele Flüchtlinge versuchen, Ägypten schnellstmöglich wieder zu verlassen – insbesondere seit dem brutalen Vorgehen der ägyptischen Polizei gegen eine friedliche Demonstration von Flüchtlingen vor dem Kairoer Hauptsitz des UNHCR 2005, bei dem 20 Flüchtlinge getötet und Hunderte verletzt wurden. Die ägyptische Regierung setzt im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten auf Repression und gezielte Exklusion. Administrativhaft und Abschiebungen sind die Regel. Zudem verfolgt Ägyptens Grenzschutz eine Shoot-to-kill-Politik und erschießt regelmäßig Flüchtlinge, die versuchen, die Grenze nach Israel zu überqueren.
Doch selbst wenn Migranten die Flucht nach Israel gelingt, sind sie keineswegs in Sicherheit. Auch die dortige Regierung ignoriert ihre internationalen Verpflichtungen, schiebt Flüchtlinge in ihre Heimatländer oder nach Ägypten ab und setzt auf eine Strategie der Abschreckung und Abschottung. Seit 2012 sorgt die israelische Armee mit der Praxis der sogenannten »hot returns« nach Ägypten für Aufmerksamkeit: der Zwangsrückführung von Flüchtlingen ohne Überprüfung ihrer Asylgesuche. Israelische Grenzsoldaten hatten mehrfach Flüchtlinge daran gehindert, die Grenze zu passieren, oder sie gar auf ägyptischem Boden festgesetzt und dem ägyptischen Grenzschutz übergeben.
Für Aufsehen sorgten im August 2012 die Bilder einer Gruppe eritreischer Flüchtlinge, die bei brütender Hitze tagelang ohne Schatten zwischen den beiden Grenzzäunen festsaß. Nachdem sie ihren Peinigern entkommen waren und den ägyptischen Grenzzaun überwunden hatten, wurde den rund 20 Menschen die Einreise verweigert; Israels Armee versorgte sie nach Berichten von NGOs nur mit einem Minimum an Wasser und Nahrung. Eine von zwei Frauen der Gruppe erlitt während des sechs Tage währenden Martyriums offenbar eine Fehlgeburt, Ärzte wurden daran gehindert, sich der Gruppe zu nähern. Israel müsse »mit harter Hand vorgehen«, kommentierte Innenminister Eli Jishai den Fall, »wenn wir nicht standhaft bleiben, hätten wir eine Million Menschen hier«. Schließlich ließ Israel die beiden Frauen sowie einen Jugendlichen ins Land, während alle Männer im Gegenzug nach Ägypten zurückkehrten.
Die Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu verabschiedete 2012 ein neues Einwanderungsgesetz, das Flüchtlinge per se als »Eindringlinge« bezeichnet und pauschal ihre Inhaftierung für bis zu drei Jahre erlaubt, bei Flüchtlingen aus sogenannten »Feindstaaten« wie dem Sudan gar unbegrenzt. Zudem rüstet das Land seine Grenze auf: In diesen Wochen soll die fünf Meter hohe, 240 Kilometer lange Mauer an der Grenze zu Ägypten fertig gestellt werden, an der seit Anfang 2012 gebaut wird. Die israelische Regierung bezeichnet diese Mauer als »Sicherheitszaun«.
Der Gefängniskomplex Saharonim in der Negev-Wüste nahe Ktsiot wiederum soll nach Plänen der Regierung bis Ende 2013 über 16.000 Flüchtlinge aufnehmen können und wäre damit die weltweit größte Haftanstalt für Flüchtlinge. Dabei ist die Zahl illegaler Grenzübertritte im vergangenen Jahr von 2.295 Menschen im Januar auf lediglich 36 im Dezember gesunken.
Im März 2012 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution zum Menschenhandel auf dem Sinai und forderte die Regierung Israels auf, ihrer Pflicht, die Opfer zu schützen, nachzukommen. Bis zu 7.000 Überlebende der Folterkammern halten sich zur Zeit in Israel auf, schätzt Shahar Shoham von der israelischen NGO »Physicians for Human Rights«. Ihnen werde keinerlei staatliche Unterstützung zuteil. »Die EU-Resolution war ein erster Schritt in die richtige Richtung, hat aber bisher nichts gebracht, es muss mehr internationaler Druck entstehen«, sagt Shoham.
Ende Januar protestierten in Berlin einige hundert Menschen gegen den Staatsbesuch von Ägyptens Staatspräsident Muhammad Mursi in Deutschland. Sie forderten die Bundesregierung auch auf, Druck auf Ägypten auszuüben und gegen den Menschenhandel auf dem Sinai vorzugehen. Deutschland setzt auf wirtschaftliche Kooperation mit Ägypten; die Einhaltung menschenrechtlicher Prinzipien wird angemahnt, aber nicht konsequent eingefordert. Der größte Skandal ist, dass die Orte der Foltercamps im Sinai bekannt sind. »Mit Hilfe der Opfer haben wir Karten angefertigt, auf denen die Folterkammern exakt eingezeichnet sind. Wir kennen Namen von Schleppern und wissen sogar, wo sie wohnen«, sagt Shahar Shoham. Diese Karten wurden an das US-Außenministerium und die ägyptische Regierung weitergereicht. Passiert ist bisher aber nichts.
Annette Groth ist Mitglied des Bundestages, menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke und war federführend bei der Kleinen Anfrage an die Bundesregierung zum Thema Menschenhandel auf dem Sinai. Sofian Philip Naceur ist freier Journalist.
© Sofian Philip Naceur 2013