Während die EU die Ausweitung ihrer Grenzüberwachung aus dem Mittelmeerraum in die Sahara einleitet und die Militarisierung der Sahel-Zone forciert, geht das Flüchtlingsdrama auf dem Sinai unvermindert weiter. Ägyptens Regierung ignoriert den Menschenhandel mit Flüchtlingen auf dem Sinai auch weiterhin. Die Lage von Flüchtlingen in Ägypten und Israel bleibt angespannt, die Genfer Flüchtlingskonvention wird von beiden Ländern konsequent missachtet. Die rigorose EU-Grenzabschottung im Mittelmeerraum, die die Verlagerung der Fluchtroute auf den Sinai und nach Israel begünstigt, wird unterdessen weiter verschärft. Während Frankreich in Mali Krieg führt, planen Libyen und Algerien in Abstimmung mit der EU, ihre Südgrenzen hochzurüsten.
Seit den 1990er Jahren hat die Europäische Union konsequent darauf hingewirkt, den Begriff „Festung Europa“ in greifbare Realität zu verwandeln. Durch die Dublin-II-Verordnung, die Verschärfung der Asylbestimmungen in fast allen europäischen Staaten, den Aufbau der Grenzschutzagentur Frontex, den Bau von Hochsicherheitszäunen in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und an Griechenlands Grenze zur Türkei sowie die Einbindung von Marokko, Tunesien und Libyen in das EU-Grenzkontrollregime wird die EU-Staatengemeinschaft fast völlig abgeriegelt. Europäische PolitikerInnen werden nicht müde, die Notwendigkeit der Grenzüberwachung zu betonen und die Wirksamkeit der Frontex-Missionen im Mittelmeerraum zu rühmen. Schließlich erreichen seit der Frontex-Gründung deutlich weniger Flüchtlinge europäisches Festland. Weniger Beachtung finden indes die Folgen der drastischen Abschottungsmaßnahmen für Tausende in Nordafrika gestrandete Flüchtlinge (veröffentlicht bei Telepolis).
Die Volksaufstände und bewaffneten Revolten in Nordafrika ließen das Grenzkontrollregime der EU zeitweilig zusammenbrechen. Mit dem Kollaps der Regime in Tunis und Tripolis wurden zwei der wichtigsten Partner der EU in der Migrationspolitik gestürzt. Die Drohung des libyschen Staatsoberhauptes Muammar Al-Ghaddafi, bei anhaltendem Druck aus London, Paris oder Berlin seine Kooperation im „Kampf gegen den Terror“ und in der Migrationspolitik zu beenden, dürfte die Entscheidung der Nato, in Libyen zu „intervenieren“, beeinflusst haben. Die Sicherheitspolitik, die Rohstoffversorgung aus Nordafrika und die Interessen Europas in der Migrationspolitik spielen bei der Gestaltung der EU-Beziehungen mit den Maghreb-Staaten eine übergeordnete Rolle. Die umfassende und äußerst effektive Zusammenarbeit mit Libyen gilt als Vorbild.
Das Freundschaftsabkommen zwischen Italien und Libyen vom 29. August 2008 sah nicht nur Zahlungen Roms an Libyen zur Wiedergutmachung der italienischen Kolonialverbrechen vor, sondern regelte insbesondere die Kooperation in der Energie- und Migrationspolitik. Libyen hatte schon seit Jahren die Grenzüberwachung eng mit Italien koordiniert und dafür Unterstützung erhalten. Schon 2004 hat die italienische Regierung Schlauchboote, Nachtsichtgeräte und Leichensäckegeliefert, doch das Abkommen von 2008 ging noch viel weiter. Neben der Aufrüstung der libyschen Marine wurden gemeinsame Patrouillen im Mittelmeer vereinbart. Außerdem wurde der Praxis des italienischen Grenzschutzes, Flüchtlingsboote auf hoher See zu stoppen und die Menschen an Bord zur Rückkehr nach Libyen zu zwingen, ohne die asylrechtlich zwingende Überprüfung durchzuführen, der Weg geebnet. Der Zusammenbruch der Zentralgewalt in Tripolis ließ die „illegale Migration“ in die EU zeitweilig anwachsen, Italiens Verteidigungsminister Ignazio La Russa hatte in Folge des Bürgerkriegs in Libyen den Kooperationsvertrag für ungültig erklärt. Doch schon am 3.April 2012 unterzeichnete Rom das Abkommen zur gemeinsamen Migrationskontrollemit Libyens neuer politischer Führung.
Auf die vorläufige, zumindest scheinbare Stabilisierung in Nordafrika nach den Aufständen 2011 und 2012 folgte die Eskalation der Gewalt in Mali. Während derzeit französische Truppen gegen Rebellen und Islamisten in Nord-Mali vorrücken, nutzt die EU die Gunst der Stunde des militärischen Zugriffs auf den Sahel und reorganisiert ihr Grenzkontrollregime im Maghreb. Eine Schlüsselrolle fällt hierbei Algerien und Libyen zu. Die Erdöl- und Gasreserven beider Länder sind für Europa von entscheidender Bedeutung, Algerien ist inzwischen ein wichtiger Verteilerknoten für die Energieversorgung der EU. Das Land ist bereits ein unverzichtbarer Erdgas- und Erdölproduzent und in Zukunft sollen auch Nigerias Erdgasquellen direkt mit dem europäischen Gasnetz verbunden werden. 2009 signierten Algerien, Nigeria und Niger einen Vertrag zum Bau der Trans-Saharan Gas Pipeline, einer 4.128 Kilometer langen Erdgasleitung, die die südnigerianische Warri-Region mit dem Gas-Hub im zentralalgerischen Hassi R’Mel verbinden soll. Das bis zu 20 Milliarden US-Dollar teure Mega-Projekt soll ab 2016 bis zu 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr für den europäischen Markt in Algeriens Erdgasnetze einspeisen. Algerien ist bereits mit mehreren Unterwasserpipelines mit dem europäischen Festland verbunden.
Seit Ausbruch des Bürgerkrieges Anfang der 1990er Jahre hat Algerien mit radikalislamischen Gruppen zu kämpfen, immer wieder erschüttern Anschläge das Land. Die Sahara im Süden Algeriens dient Islamisten und Schmugglern als Rückzugsort, die Region steht faktisch nicht unter staatlicher Kontrolle. Immer wieder werden Ausländer entführt und Anschläge auf Militärposten und staatliche Einrichtungen verübt. Der Überfall auf die Gasanlage in In Amenas, bei dem im Januar über 800 Geiseln genommen wurden, war nur die Spitze des Eisberges. Kriminelle und gewaltbereite Extremisten kontrollieren im Niemandsland der Sahara den Schmuggel mit Rauschgift aus Südamerika, das über Westafrika nach Europa transportiert wird. Auch für afrikanische Flüchtlinge ist Algerien ein wichtiges Transitland. Viele Menschen aus Westafrika lassen sich von Schleppern ins südalgerische Tamanrasset bringen und setzen von hier aus ihre Reise nach Marokko, Tunesien oder Libyen fort. Mittlerweile boomt auch der Waffenhandel. Nach dem Zusammenbruch des Ghaddafi-Regimes flohen von Ghaddafi angeheuerte Söldner mit ihrer Beute aus Libyens Waffendepots in den Sahel und schlossen sich den Rebellen in Mali an.
Die in Algerien aktiven terroristischen Gruppen ermöglichen europäischen Staaten und den USA seit Jahren, die Aufrüstung Algeriens zu legitimieren. Für die Regierung Algeriens und die Staatspartei Front de Libération National (FLN), die seit der Unabhängigkeit 1962 ununterbrochen an der Macht ist, ist der Kampf gegen den islamistischen Terror ein Mittel zum Machterhalt. Seit der
Entführung von 32 europäischen Touristen in der Sahara durch die „Groupe Salafiste de Prédication et du Combat“ (GSPC) im Jahre 2003, die nach über drei Monaten ihr Ende fand, gehört Algerien zum festen Kundenstamm der US-amerikanischen und europäischen Waffenindustrie. Die GSPC, eine Abspaltung bewaffneter islamistischer Gruppen (GIA), die nach Ende des algerischen Bürgerkrieges weiter Anschläge im Land verübten, schloss sich kurz darauf Al Qaida an und nennt sich seither „Al Qaida im Islamischen Maghreb.“ Wer diese Gruppierung kontrolliert, ist ungewiss. Als sicher hingegen gilt, dass der
algerische Geheimdienst DRS in den 1990er Jahren islamistische Zellen der GIA im großen Stil unterwandert und gesteuert hat, um die Bedrohungslage in Algerien aufrecht zu erhalten. Ziel waren die Absicherung politischer und rüstungsrelevanter Unterstützung durch den Westen
sowie innenpolitische Rückendeckung der Regierung in Algier bei ihrem Kampf gegen die Islamisten.
Algerien, lange Zeit ein fester Abnehmer russischer Rüstungstechnik, verzeichnet seit Jahren ausgesprochen hohe Erlöse aus dem Export von Erdöl und Erdgas und rüstet seither massiv auf. Berlin gehört inzwischen zu den wichtigsten rüstungspolitischen Partnern Algiers. Schon im Juli 2011 nickte der Bundessicherheitsrat einen Rüstungsdeal mit Algerien in Höhe von 10 Milliarden Euro ab und katapultierte die algerisch-deutsche militärtechnische Kooperation in unerreichte Höhen. Neben dem Verkauf von vier Fregatten aus dem Hause Thyssen-Krupp Marine Systems und dem Bau einer Schiffswerft in Algerien planen Rheinmetall und Daimler den Bau einer Fahrzeugfabrik im ostalgerischen Constantine, in der unter anderem der Spürpanzer Fuchs gebaut werden soll. Bisher umfasste die Rüstungsausfuhr aus Deutschland nach Algerien nur wenige Millionen Euro jährlich, mit dem jüngsten Rüstungspaket und Staatsbürgschaften in Milliardenhöhe drängt die deutsche Waffenindustrie auf den lukrativen algerischen Markt. Die Bundesregierung soll zudem im Zuge des Staatsbesuchs von Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika im Dezember 2010 in Berlin Interesse an einer deutschen Beteiligung an einem von Algier ausgeschriebenen Grenzsicherungsprojekt bekundet haben.
Nach dem e
rsten Selbstmordanschlag in Mali auf einen Militärcheckpoint in Gao zeichnet sich ab, dass der Konflikt rasch ein asymmetrischer Krieg werden kann. Der Vorschlag, eine systematische Grenzsicherung in Algeriens Süden zu installieren, wird allmählich konkreter. Während Algier die von Frankreich geleitete militärische Intervention in Mali vorerst politisch unterstützt und der französischen Luftwaffe Überflugrechte gewährt hat, verkündete das algerische Außenministerium jüngst die
Schließung der Grenze nach Mali. Libyens Parlament beschloss schon im Dezember 2012, die
Grenzübergänge nach Niger, Tschad, Sudan und Algerien zu schließen.
Im November berichtete das Nachrichtenportal für Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Afrika „defenceWeb“
von
Plänen des algerischen Verteidigungsministeriums, ein integriertes Grenzüberwachungssystem aufbauen zu wollen, das Algier helfen soll, „seine Grenzen gegen das Eindringen von Terroristen, Kriminellen und Waffen- und Drogenschmugglern“ zu schützen. Der Bericht betont ferner, dass Algerien angesichts der instabilen Lage in Libyen und Mali der Grenzsicherung in der Sahara Priorität eingeräumt habe. Algier will ein radargestütztes Überwachungssystem mit modernster Luftüberwachung und Bodenpatrouillen, wie sie bereits an den Grenzen zu Libyen und Mali im Einsatz sind, errichten. An der Grenze zu Mali soll Algeriens Armee zudem begonnen haben, einen 50 Kilometer langen Zaun zu bauen.
In Libyen wird der Krieg in Mali derweil offenbar dafür genutzt, eine neue Initiative für die Hochrüstung und Militarisierung der südlichen Grenzregion voranzutreiben und den Aktionsradius von Frontex auszuweiten. Wie Catherine Ashton, Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, im November in Brüssel mitteilte, komme dem Grenzregime in Libyen vor dem Hintergrund des Krieges in Mali eine wichtige Abschottungsfunktion zu. Unter dem Dach der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sollen Frontex und die polizeiliche Kooperation zwischen der EU und Libyen „
in den militärischen Rahmen zur Grenzsicherung direkt einbezogen werden.“ Die militärisch-zivile Kooperation bei der Grenzkontrolle der EU im Mittelmeerraum ist nichts Neues. Das von Militärs und Frontex gemeinsam durchgeführte maritime Überwachungsprogramm „Seahorse“, basierend auf Stützpunkten in verschiedenen Staaten, soll nun offenbar in den Sahel-Raum exportiert und ausgeweitet werden. Die militärisch-zivile Kooperation zwischen Libyen und der EU soll Standorte in Italien, Spanien und Libyen umfassen. Selbst Tunesien, Ägypten und Algerien sollen aufgefordert werden, die Pläne der EU zum Aufbau eines Wachturmsystems im Mittelmeerraum mitzutragen.
Während
Libyen zum polizeilichen Vorposten der EU aufgewertet wird, plant offenbar auch die Regierung in Tripolis die radargestützte Hochrüstung der südlichen Grenze. Die Regierungen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens sowie Rüstungskonzerne aus diesen EU-Staaten stehen seit letztem Sommer in
Verhandlungen mit Libyens Regierung über die Modernisierung der Grenzüberwachung. Die Abschottungspolitik führt derweil zu einer Verschiebung der Routen für Flüchtlinge aus Ost- und Westafrika.
Mit Marokko, Tunesien und Libyen fand die EU bereitwillige Partner für ihre restriktive Migrationspolitik und baute die drei Länder zu migrationspolitischen Vorposten Europas auf. Weder die drei Staaten noch Algerien oder Ägypten halten sich an die Genfer Flüchtlingskonvention. Aufgrund der zunehmenden Effizienz von Frontex kommen immer weniger Flüchtlinge aus Nordafrika heraus. Während die Route für Flüchtlinge aus Ostafrika durch den Sudan, Ägypten und Libyen führt, ist der Maghreb die wichtigste Transitregion für Menschen aus Westafrika. MigrantInnen in Algerien oder Marokko sind prekären Aufenthalts- und Lebensbedingungen ausgesetzt, beide Länder schieben immer wieder Flüchtlinge ab und sind dafür bekannt, Menschen ohne gültige Papiere in der Wüste auszusetzen.
Bis zum Freundschaftsabkommen zwischen Rom und Tripolis war Libyen zeitweilig ein primäres Ziel für die im Westmaghreb angekommenen MigrantInnen. Unterdessen ist Libyen zu einem Hotspot
für Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea, Äthiopien und den beiden sudanesischen Staaten
geworden. Die überwiegend genutzte Route für Flüchtlinge aus Ostafrika führt via Ägypten nach Libyen und von dort weiter nach Italien oder Malta. Seit das Grenzkontrollregime der EU im Mittelmeerraum zunehmend effektiver diesen Weg verschlossen hat, scheuen viele Flüchtlinge den Weg durch die libysche Wüste und lassen sich von Beduinen über den Sinai an die israelische Grenze schmuggeln, um von hier aus in die Türkei oder nach Europa zu gelangen oder in Israel Asyl zu beantragen.
Ostafrika bleibt derweil politisch und ökonomisch instabil und ein beständiger Quell für Flucht und Migration. Vor allem Äthiopien ist ein wichtiges Zielland für Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea, dem Sudan, Südsudan und Kenia und beherbergt zahlreiche Flüchtlingslager auf seinem Staatsgebiet. Die dynamische aber ungleich verteilte wirtschaftliche Entwicklung hat Äthiopien politisch zwar stabilisiert, seit den umstrittenen Parlamentswahlen 2005 wird jedoch zunehmend die Meinungs- und Versammlungsfreiheit beschnitten. Oppositionelle verlassen vermehrt das Land und gehen ins Exil. Die Regierung plant zudem ein umfangreiches Umsiedlungsprogramm und lockt in- und ausländische Unternehmen an, um große landwirtschaftlich nutzbare Flächen zu pachten. Bis zu 1.5 Millionen Menschen sollen dafür umgesiedelt werden. Human Rights Watch berichtet von zunehmenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee.
Nachdem revoltierende eritreische Soldaten vor kurzem das Informationsministerium in Eritreas Hauptstadt Asmara besetzten, brachen
Proteste eritreischer Flüchtlinge in Flüchtlingslagern in Äthiopien aus. Das kleine Land am Roten Meer erlebt seit Jahren einen Massenexodus. Bis zu
3000 Menschen fliehen jeden Monat aus dem Land und lassen sich von Schleppern in die Flüchtlingslager im Ost-Sudan oder in Äthiopien bringen. Seit dem 1998 ausgebrochenen Grenzkrieg mit Äthiopien wird Eritrea autoritär regiert. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, die Verfassung ist bis heute außer Kraft gesetzt. Regierung und Militärs nutzen den Konflikt für die massive Militarisierung von Gesellschaft und Staat. Der allgemeine Wehrdienst für alle Frauen und Männer ist neben der extremen Armut einer der wichtigsten Gründe für die Flucht. Der Wehrdienst wird oft auf unbestimmte Zeit verlängert und ist unbezahlt. Inhaftierung, Folter und Vergewaltigung von Wehrpflichtigen gehören zur Normalität in der Armee.
Die Anerkennungsquote bei Asylgesuchen von Flüchtlingen aus Eritrea ist hoch. Zwei Drittel der Asylanträge werden in Äthiopien und im Sudan gestellt, nur Wenige schaffen es nach Norwegen oder in die Schweiz. Das
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) im Sudan „geht davon aus, dass 80 Prozent der Flüchtlinge die Lager zwei bis drei Monate nach ihrer Ankunft verlassen und ihren Weg nach Khartum, den Nahen Osten oder Europa fortsetzen. (..) Zudem erlauben die sudanesischen Behörden den Flüchtlingen keine irregulären Reisen innerhalb des Landes. (..) Da die Flüchtlinge deshalb oft weder über ID-Papiere noch über eine Reisebewilligung verfügen, sind sie für ihre Weiterreise von Schleppern abhängig. So sind sie besonders gefährdet, in die Fänge von Menschenhändlern zu gelangen, die sie im Sudan oder im Sinai festhalten.“
Der Sinai, das Zugpferd der ägyptischen Tourismusindustrie, ist zu einem Hotspot für Flüchtlinge aus Ostafrika geworden. Die Libyen-Route gilt angesichts der EU-Kontrollen im Mittelmeer und der instabilen politischen Lage seit Ausbruch des Bürgerkrieges als gefährlich und schwer zu passieren. Schlepper und Flüchtlinge weichen seither vermehrt auf die Sinai-Halbinsel aus. Doch halten sich Schlepper oft nicht an Absprachen und bringen die Menschen nicht an die israelische Grenze, sondern entführen und erpressen sie. Auch werden Flüchtlinge immer öfter aus den Flüchtlingslagern Mai Ayni in Äthiopien und Shagarab im Ost-Sudan entführt und an Menschenhändler verkauft.
Die UN berichteten 2012 von grenzüberschreitend agierenden Schlepperbanden, die gezielt Flüchtlinge in der Region entführen und sie nach Ägypten verschleppen. Zahlreiche Foltercamps soll es im Norden des Sinai inzwischen geben, in denen Schlepperbanden hohe Lösegelder von ihren Opfern erpressen. In Kellerräumen eingepfercht und angekettet, werden Menschen oft monatelang gefoltert, bis sie die geforderten Summen aufgebracht haben. Inzwischen werden bis zu 50.000 US-Dollar Lösegeld verlangt. Die Erpresser rufen Verwandte ihrer Opfer an. Sobald die Verbindung steht, beginnt die Folter. Oft drohen die Entführer, Organe der Geiseln zu entnehmen und sie zu verkaufen, sollten sie das Lösegeld nicht bezahlen.
Die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos schätzt, dass seit 2006 rund 4000 Menschen in den Foltercamps getötet wurden. Sie veröffentlichte im Herbst 2012 gemeinsam mit Prof. Dr. Mirjam van Reisen und Dr. Conny Rijken den Bericht „Human Trafficking in the Sinai: Refugees between Life and Death“. Das Dokument basiert auf Interviews mit Überlebenden der Camps und stellt eine umfassende Untersuchung und Darstellung der auf dem Sinai begangenen Gräueltaten dar. Menschenrechtsorganisationen in Ägypten verweisen immer wieder auf die prekäre Situation von Flüchtlingen. Nach der Revolution 2011 hofften viele Flüchtlinge auf eine Verbesserung der asyl- und migrationspolitischen Praxis in Ägypten. Doch haben Flüchtlinge nach wie vor keinerlei Zugang zum öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem und leben ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigungen in Ägypten. Da ägyptische Behörden keine Papiere für Asylbewerber und Flüchtlinge ausstellen, bleibt das UNHCR in Kairo die einzige Anlaufstelle für MigrantInnen.
Ägypten hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert, dennoch sind Flüchtlinge vielfältigen Repressionen seitens der Sicherheitskräfte und der Behörden ausgesetzt. Administrativhaft und Abschiebungen sind die Regel. Das UNHCR schätzt allein die Zahl der auf dem Sinai inhaftierten Menschen aus Eritrea auf rund 800. Ägyptens Grenzschutz erschießt zudem immer wieder Flüchtlinge, die versuchen, die Grenze nach Israel zu passieren. Kairo kommt seinen internationalen Verpflichtungen keinesfalls nach und ignoriert Appelle von NGOs, gegen die Schlepperbanden auf dem Sinai vorzugehen. Dabei sind die Verstecke der Menschenhändler und Foltercamps durchaus bekannt. Menschenrechtsaktivisten nennen unter anderem die Dörfer El Mahadia, El Joula, El Masoura und Shabana. Die „
Hotline for Migrant Workers“ und die „
Physicians for Human Rights“, in Tel Aviv ansässige NGOs, die in Israel lebende MigrantInnen und Flüchtlinge betreuen, haben auf Basis zahlreicher Interviews mit Überlebenden der Foltercamps
Karten angefertigt und diese dem US-Außenministerium und ägyptischen Behörden übergeben.
Passiert ist bisher nichts.
„We know the names of the smugglers and their locations. We have briefed the Egyptian embassy in Israel but so far the Egyptian authorities are not doing anything. It is the responsibility of the Egyptian government to stop the traffickers. It is also the responsibility of Israel to protect the victims, but instead the ransoms are getting higher and the stories of torture are getting worse.”
Die israelische Regierung setzt im Umgang mit den aus Ägypten ankommenden Flüchtlingen derweil auf Abschottung, Internierung und Abschiebung. Rund 60.000 Menschen haben seit 2006 die Grenze überquert und sind insbesondere seit 2012 weitreichenden Restriktionen und Repressionen ausgesetzt. Das neue Einwanderungsgesetz, das im Januar 2012 von der Knesset verabschiedete „
Anti-Infiltration Law“, bezeichnet nicht nur alle Einwanderer grundsätzlich als „Eindringlinge“, sondern legalisiert eine pauschale Inhaftierung von Flüchtlingen von bis zu drei Jahren. Kommen die Menschen gar aus „Feindstaaten“ wie dem Sudan, ist gar eine unbegrenzte Haft möglich. Flüchtlinge aus Eritrea, dem Sudan, Somalia und der DR Kongo fallen unter einen speziellen Rechtsstatus. Der „Group Protection Status“ bedeutet in der Realität jedoch nicht mehr als eine vorläufige Freilassung aus der Haft. Flüchtlinge mit diesem Status haben keinen Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem des Landes und bekommen keine Arbeitsgenehmigung. Die israelische Regierung treibt die Betroffenen damit zwangsläufig in die Illegalität. Zudem hat Israel eine der niedrigsten Anerkennungsraten bei Asylgesuchen weltweit.
2009 lag diese bei 0.24 Prozent, 2010 war sie gar noch niedriger. Derweil baut das Land seine Gefängnisinfrastruktur aus und errichtet nahe der Grenze zu Ägypten einen Haftkomplex, der nach der geplanten Fertigstellung Ende 2013 bis zu 16.000 Menschen aufnehmen soll und damit das
weltweit größte Gefängnis für Flüchtlinge wäre. Der 240 Kilometer lange und mit modernster Überwachungstechnologie ausgestattete Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Ägypten ist fast fertig gestellt. Die Grenze ist seither praktisch dicht. Noch im Januar 2012 reisten über 2000 Menschen illegal nach Israel ein, im Dezember waren es nur noch 36.
Derweil geht die Transformation in Ägypten in eine neue Phase. Die im Januar 2013 wieder aufgeflammten Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in der Hauptstadt Kairo und den Kanal-Städten Port Said, Suez und Ismailija zeigen, dass die politischen und sozialen Kämpfe in Ägypten keineswegs ausgestanden sind. Kurz nachdem Ägyptens Präsident Mohammed Mursi den Notstand über die Kanal-Zone ausgerufen hatte, reiste er zu Gesprächen nach Berlin und wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit militärischen Ehren empfangen. Rüde Gewalt und Folter der Sicherheitskräfte gegenüber Demonstranten, der Einsatz von Schrotmunition bei Protesten, Verurteilungen von Zivilisten vor Militärtribunalen und Menschenrechtsverletzungen der Armee gehören auch unter der neuen Regierung zur Normalität. Die Bundesregierung macht zumindest verbal die Einhaltung der Menschenrechte in Ägypten zur Vorbedingung für den Ausbau der wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dennoch stärkt Berlin Präsident Mursi den Rücken. Außenminister Guido Westerwelle war der erste westliche Außenminister, der nach der Amtseinführung Mursis im Juli 2012 für Gespräche nach Kairo reiste. Derweil intensiviert Deutschland die rüstungspolitische Kooperation mit Kairo und will dem Land U-Boote verkaufen. Auch die USA lieferten trotz der Unruhen in Ägypten noch im Januar vier F-16 Kampfjets und rund 200 Panzer an Ägypten. Offenbar planen Washington und Kairo in Kürze die Durchführung von gemeinsamen Militärmanövern.
Der Menschenhandel auf dem Sinai geht unterdessen unvermindert weiter. Trotz der Militäroffensive im Sinai nach dem Anschlag auf einen ägyptischen Grenzposten im August 2012, bei dem 16 ägyptische Grenzsoldaten getötet wurden, geht die Armee bisher nicht gegen die Menschenhändler vor. „Egypt’s government has failed to mention that the attack took place only a few kilometers from underground compounds where African asylum seekers are being held hostage. If President Mohammed Morsi truly seeks to meet international expectations as Egypt’s new democratic leader, he must include human trafficking as an essential aspect of his Sinai “cleansing” policy”, schreibt Laurie Lijnders im Egypt Independent. Menschenrechtsorganisationen in Ägypten und Europa haben die ägyptische Regierung wiederholt aufgefordert, gegen den Menschenhandel auf der Halbinsel vorzugehen. Auch das EU-Parlament, dass sich im März 2012 mit den Foltercamps auf dem Sinai befasste und die Fraktion DIE LINKE im deutschen Bundestag, die im Oktober eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung stellte, haben sich im vergangenen Jahr eingemischt und fordern die Regierungen Ägyptens, Sudans, Äthiopiens und Eritreas auf, Maßnahmen gegen den Menschenhandel zu ergreifen. Des Weiteren wird in der Entschließung des EU-Parlaments empfohlen, Interpol und Europol einzuschalten und das UNHCR zu befähigen, die Sicherheitsbedingungen in den Flüchtlingslagern in Äthiopien und im Sudan zu verbessern. Israel und Ägypten werden aufgefordert, sich gemäß ihren internationalen Verpflichtungen im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention zu verhalten und eine adäquate Asyl- und Migrationspolitik zu implementieren. Da die Regierung in Kairo bisher jedwede Aufforderung, gegen die Schlepper auf dem Sinai vorzugehen, ignoriert hat, geht das Geschäft mit entführten und erpressten Flüchtlingen in Ägyptens Osten bisher ungestört weiter.
Annette Groth ist Mitglied des Bundestages, menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und war federführend bei der Kleinen Anfrage an die Bundesregierung zum Thema Menschenhandel auf dem Sinai.
Sofian Philip Naceur ist Politikwissenschaftler und berichtet als freier Journalist aus Kairo und Algier.
© Sofian Philip Naceur 2013