Hunderttausende Menschen folgten am Dienstag den Aufrufen zahlreicher liberaler, linker und säkularer Parteien und Jugendorganisationen, um gegen die Politik des im Juni inthronisierten Staatspräsidenten Mohamed Mursi zu demonstrieren. Das der Bruderschaft und ihrem politischen Arm, der Freedom and Justice Party (FJP), nahe stehende Staatsoberhaupt hatte sich vergangene Woche mit einem Dekret handstreichartig weitreichende Befugnisse des Justizsystems einverleibt und der von der FJP und der salafistischen Al-Nour-Parei dominierten verfassungsgebende Versammlung Immunität vor richterlichen Entscheidungen eingeräumt. Opposition, unabhängige Medienvertreter und Protestler in Kairo hatten die Entscheidungen als Staatsstreich bezeichnet und massiven Wiederstand gegen das Dekret angekündigt. Die bereits seit einer Woche statt findenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und den paramilitärischen Central Security Forces (CSF) wurden durch das Dekret zusätzlich angeheizt. Bereits am Freitag versammelten sich Tausende auf dem Tahrir Square in Kairo, um gegen die Machtfülle Mursis zu protestieren. Die Massenproteste am Dienstag waren eine Machtdemonstration der säkularen Opposition und die größte Protestveranstaltung seit dem Sturz Hosni Mubaraks 2011.
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Simon-Bolivar-Square, brennender CSF-Truck |
Organisiert als Sternmarsch versammelten sich bis zum späten Abend bis zu 200.000 Menschen auf dem symbolträchtigen Tahrir Square im Herzen der ägyptischen Hauptstadt. Märsche starteten unter anderem in Mohandesen im Westen Kairos und in Shubra im Norden und zogen friedlich in Richtung Tahrir. Allein der Marsch aus Shubra zählte über 10.000 Menschen und verstopfte die Innenstadt für mehrere Stunden. Aufgerufen hatten neben der liberalen Free Egyptians Party, der Al-Dostour, der Sozialdemokraten und der nasseristischen Partei des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Hamdeen Sabahi auch der unabhängige Gewerkschaftsdachverband EFITU, eine Bauerngewerkschaft und Jugendgruppen wie das 6th of April Movement und die koptische Maspero Youth Union. Während die Massenproteste in Downtown und rund um den Tahrir friedlich blieben, lieferten sich nur wenige Meter entfernt Jugendliche Straßenschlachten mit den CSF am Simon-Bolivar-Square in Garden City. Seit dem 19. November, als eine Trauerkundgebung zum Jahrestag des Mohamed-Mahmoud-Massakers in offene Gewalt umschlug, haben die Ausschreitungen in Kairo nicht mehr aufgehört. Ärzte in den improvisierten Lazaretten am Tahrir gehen von 400 Verletzten aus. Rund 350 Demonstranten wurden verhaftet und gut 200 Polizisten verletzt, berichten staatliche Medien.
Bereits tagsüber versammelten sich Tausende Menschen auf dem Tahrir, während in den Nebenstraßen ein Militärfahrzeug von Jugendlichen in Brand gesteckt wurde und ein Mann an einer durch Tränengasbeschuss verursachten Rauchvergiftung starb. Der 56jährige Demonstrant ist das dritte Todesopfer der andauernden Protestwelle. Am Sonntag war der durch Gummigeschosse schwer verletzte 16jährige Gaber Saleh, Mitglied des 6th of April Movement, im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen. Bei Solidaritätsprotesten von Muslimbrüdern und FJP starb zudem ein Mitglied der Bruderschaft in Damanshour im Nildelta. In mehreren Städten kam es am Sonntag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Staatspräsidenten. Die Muslimbrüder sagten ihre Protestmärsche für den gestrigen Dienstag ab. Dennoch kam es an zahlreichen Orten in Ägypten zu Ausschreitungen, vor allem in Mahalla-al-Kubra und Alexandria. Hier ging die FJP auf Konfrontationskurs mit der säkularen Opposition und demonstrierte. Auch in Mahalla gab es Ausschreitungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten. Demonstranten beider Seiten bewarfen sich mit Steinen und Molotowcocktails, die CSF setzten massiv Tränengas ein.
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Protestzug in Shubra, Kairo |
Mursis Dekret kam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt und goss unnötig Öl ins Feuer. Noch kurz zuvor wähnte er sich ob des erfolgreich in Ägypten vermittelten Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der palästinensischen Hamas mit internationalem Rückenwind ausgestattet. Durch das weitreichende Dekret ging vielen, die abwartend aber skeptisch die Politik des konservativen Präsidenten beobachtetet hatten, definitiv zu weit. Mursi, der neben der exekutiven auch die gesetzgebende Gewalt auf seinem Amt vereint, greif mit diesem Manöver nach der absoluten Macht in Ägypten. Nicht nur schützt er durch das Dekret die von seinen Verbündeten kontrollierte verfassungsgebende Versammlung vor einer möglichen richterlichen Auflösung, er verfügte gar, dass sämtliche von ihm verfügten Anordnungen durch keinerlei Instanz im Staat angefochten werden kann. Faktisch hat Mursi damit die ägyptische Justiz entmachtet und die Gewaltenteilung, die in Ägypten selbst unter Mubarak formal bestand, aushebelt. Zwar betonte er die Dekrete sollen das Land politisch und damit auch wirtschaftliche stabilisieren und würden übergangsweise gelten, bis eine neue Verfassung verabschiedet und ein neues Parlament gewählt sein wird. Darüber hinaus entließ der Präsident den unbeliebten Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmoud, der 2006 noch von Mubarak in sein Amt gehievt worden war, und ersetzte ihn mit dem ihm getreuen Talat Abdullah, der nach vagen Berichten einiger ägyptischer Zeitungen sogleich namenhafte Oppositionelle ins Visier nahm.
Seit Mursi am 11. August 2012 die Auflösung des Parlamentes durch eine vorangegangene Entscheidung des Militärrates für ungültig erklärte, war der Präsident vor seinem Dekret vom Donnerstag bereits faktisch Gesetzgeber und ausführende Gewalt in Personalunion. Mit dem Dekret hat er nicht nur das Justizwesen ausgehebelt, sondern sich zugleich das Recht zugesprochen eine neue verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, sollte die derzeit amtierende zu keiner Einigung über einen Verfassungsentwurf kommen. Angesichts der Austrittswellen aus der Versammlung hat das Gremium bereits das Gros seiner Legitimität verspielt. Über 30 Mitglieder, allen voran Frauen, Christen und Säkulare, der 100köpfigen Versammlung sind bisher aus Protest gegen Mehrheitsentscheidungen von FJP-Mitgliedern und Salafisten ausgetreten.
Da die Besetzung der Versammlung an die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom Frühjahr gekoppelt ist, wurde die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung zunehmend in Frage gestellt. Das Parlament ist formal durch den Militärrat aufgelöst worden und auch wenn Mursi dieses wieder eingesetzt hat, besteht Zweifel an der Rechtmäßigkeit sowohl dieser Entscheidung Mursis als auch an der Legitimität der Versammlung überhaupt. Angesichts der Dominanz der FJP in der Versammlung ist eine neuerliche Berufung des Gremiums für die Bruderschaft und ihren politischen Arm riskant, da ihr Einfluss gemindert werden könnte. Die politische Stoßrichtung der Dekrete, dürfte daher sein, die Geschicke des Landes an eine von der FJP entworfene Verfassung langfristig binden zu können. Unerheblich für die politischen und gesellschaftlichen Ziele der Bruderschaft, der FJP und der Salafisten wäre es dann, ob Mursi langfristig im Amt bleibt oder nicht. Dennoch hat sich der Präsident offensichtlich verkalkuliert.
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Anti-Mursi-Proteste Downtown, Kairo |
Der internationale Rückenwind und die Bilder von gewaltbereiten Jugendlichen, die sich mit Polizei und CSF blutige Straßenschlachten lieferten, schienen die Machtelite um den Präsidenten glauben zu lassen, es sei der richtige Zeitpunkt, um einen heimlichen Staatsstreich durchzuführen. In den vergangenen Monaten war die Opposition zudem entzweit. Streiks legten im Sommer zwar regelmäßig das Land lahm, von einem vereinheitlichen Impuls in Richtung Generalstreik war die Arbeiterschaft aber weit entfernt. Oppositionelle Parteien protestierten ebenso regelmäßig, aber jede politische Strömung kochte ihr eigenes Süppchen. Erst nachdem sich im Oktober bei Protestveranstaltungen von Anhängern und Gegnern des Präsidenten auf dem Tahrir beide Seiten eine eintägige Straßenschlacht unter demonstrativer Abwesenheit der Staatsmacht lieferten, bewegten sich die oppositionelle Parteien aufeinander zu. Nach einhelligen Verurteilungen des Dekrets in diversen politischen Lagern war die massive Mobilisierung für die Massendemonstration vom Dienstag nur noch Formsache. Die Opposition fühlt sich seither im Aufwind. Zweifelhaft bleibt dennoch, ob Mursi seine Entscheidungen rückgängig machen wird, schließlich droht dann erst Recht eine richterliche Beanstandung der Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung. Ignorieren kann der die Proteste nicht, auch wenn Muslimbruderschaft und FJP versuchen für eine Gegendemonstration mobil zu machen und den Anschein zu erwecken, die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter ihnen. Ägypten steckt nach wie vor inmitten einer revolutionären Umbruchphase mit ungewissem Ausgang. Zunächst werden beide Pole der Gesellschaft weiterhin versuchen die Macht der Straße an sich zu reißen. In diesem Sinne rief die säkulare Opposition für Freitag erneut zu einer Massendemonstration gegen den Präsidenten auf.
© Sofian Philip Naceur 2012