Eine Woche nach den gewalttätigen Ausschreitungen auf dem Tahrir Platz in Kairo demonstrierten am vergangenen Freitag erneut Tausende gegen die Dominanz des politischen Arms der Muslimbrüder, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), in der verfassungsgebenden Versammlung und fordern die Auflösung der Versammlung. Die Verfassung sei für alle Ägypter und nicht nur für die Islamisten, betont eine Demonstrantin vor der großen Moschee im Armenviertel Sayyeda Zeinab, wo einer der drei großen Protestzüge des Sternmarsches gestartet war. Rund 6000 Menschen versammelten sich bis zum späten Nachmittag auf dem Tahrir Platz im Herzen Kairos und demonstrierten friedlich für ein säkulares und laizistisches Ägypten und gegen die Vormachtstellung der FJP in der verfassungsgebenden Versammlung. Zu den Protesten aufgerufen hatte ein breites Bündnis aus liberalen und linken Parteien, zivilen Organisationen und Gewerkschaften. Mit zahlreichen Anhängern vertreten waren die Al-Dostour Partei, angeführt vom ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde Mohamed El-Baradei, die sozialdemokratische Partei Ägyptens, die liberale Jugendbewegung des 6. April sowie die Kommunistische Partei.
Bereits vergangene Woche riefen die säkularen Kräfte Ägyptens zu Protesten gegen Regierung und Muslimbrüder auf. Nachdem auch die Muslimbrüder kurzfristig zu Protesten auf dem Tahrir aufgerufen hatte, kam es den ganzen Tag über zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern von Staatspräsident Mohamed Mursi, der der Bruderschaft nahe steht und einst die FJP angeführt hatte. Für die Proteste am vergangenen Freitag kündigten die salafistische Al-Nour Partei, Muslimbrüder und FJP an nicht an den Protesten teilzunehmen und die säkulare Opposition alleine demonstrieren zu lassen. Die Proteste verliefen friedlich und ohne Zwischenfälle.
Mit Slogans wie „Brot, Freiheit, nieder mit der verfassungsgebenden Versammlung“, „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ oder „Badie (Anführer der Muslimbuderschaft, Anm. d. Verfassers), du hast die Revolution verkauft“ zogen mehrere Protestzüge nach den Freitagsgebeten in Richtung Tahrir. Die Forderungen der Demonstranten waren mannigfaltig, schließlich hatten dutzende Organisationen und Parteien zu dem Protest aufgerufen. In Sayyeda Zeinab forderte die Menge mehr Ausgaben für Bildung und die Freilassung der Soldaten des 8. Mai 2011. Damals hatten sich Soldaten den Protesten gegen die Militärherrschaft angeschlossen und waren verhaftet worden.
Wie die staatsnahe ägyptische Tageszeitung Al Ahram berichtet, skandierte die Menge, die sich aus Giza in Richtung Tahrir bewegte, zudem Parolen gegen die Außen- und Finanzpolitik von Staatspräsident Mursi. In Anspielung auf den Kredit des Internationalen Währungsfonds für Ägypten in Höhe von 4.8 Mrd. US-Dollar und die Politik der Weltbank rief die Menge „Weltbank: Hunger, Arbeitslosigkeit, steigende Preise.“ Ägyptens Wirtschaft hat durch den Einbruch des Tourismussektors seit Ausbruch der Revolution stark gelitten, Kairos Währungsreserven sind massiv gesunken. Wirtschaftsexperten fordern in klassischer neoliberaler Manier eine Abwertung des ägyptischen Pfunds und eine Reduktion der Subventionen für Benzin und Brot. Gewerkschaften und linke Parteien machen insbesondere gegen diese finanzpolitischen Forderungen, die bei der FJP durchaus Gehör finden, massiv mobil.
Ägyptens Parteilandschaft und die säkulare Zivilgesellschaft sind lebendiger denn je, wie in den letzten Wochen immer wieder eindrucksvoll bewiesen wurde. Nach wie vor fürchten viele Menschen eine schleichende Islamisierung des Landes unter der Herrschaft der konservativen FJP und Staatspräsident Mursi, dennoch waren derartige Proteste unter dem im Februar 2011 gestürzten Autokraten Hosni Mubarak undenkbar. Die Zurückhaltung der Konservativen am 19. Oktober darf auch als durchdachte Reaktion auf die gewaltsamen Ausschreitungen vom 12. Oktober 2012 gedeutet werden. Anhänger der Muslimbruderschaft hatten eine Rednertribüne der säkularen Opposition gestürmt und damit die Ausschreitungen provoziert. Die innenpolitische und gesellschaftliche Polarisierung in Ägypten ist spätestens seit vergangener Woche offensichtlich geworden, fraglich bleibt wie die verschiedenen Kräfte in Zukunft miteinander umgehen werden und ob Machtwechsel im post-revolutionären Ägypten gewaltfrei stattfinden können.
© Sofian Philip Naceur 2012