Die Zwei-Staaten-Lösung gilt offiziell als Modus operandi im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Doch der fortschreitende israelische Siedlungsbau in der Westbank und Ostjerusalem hat längst Realitäten geschaffen, die der Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 entgegenstehen. Besorgt verfolgen deswegen Palästinenser und im Sinai lebende ägyptische Beduinen das wiederkehrende Gerede über angebliche Pläne zur Umsetzung eines »Jahrhundertdeals«. Dabei geht es um die Ansiedlung von Palästinensern in Teilen des Nordsinai. Was meist als absurd abgetan wird, ist ein inzwischen viel diskutiertes Thema in der Region. Führende Stammesvertreter im Sinai vermuten hinter den undurchsichtigen Entwicklungen bereits eine Art Verschwörung – und werden belächelt (erschienen in junge Welt am 2.1.2018).
Doch unzählige offene Fragen über Ägyptens »Antiterrorkampagne« im Nordsinai, den Inseldeal mit Saudi-Arabien, Äußerungen israelischer Minister und ambitionierte Entwicklungspläne auf der Halbinsel lassen die Spekulationen gedeihen. Vor allem Erklärungen israelischer Offizieller heizten sie zuletzt an. Nachdem der israelische Minister Hiob Kara im Februar angebliche Gespräche seiner Regierung mit US-Präsident Donald Trump über einen solchen Deal ausgeplaudert und kurz darauf wieder dementiert hatte, sprach sich im November die israelische Ministerin für soziale Gleichheit, Gila Gamliel, für die Schaffung eines Palästinenserstaates im Sinai aus. Die einzige realistische Option sei eine palästinensische Autonomie in der Westbank. Es könne und dürfe keinen palästinensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer geben, zitiert das Internetportal Middle East Monitor die Likud-Politikerin.
Bereits 2014 berichtete das israelische Armeeradio, Ägyptens Staatschef Abdel Fattah Al-Sisi habe den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, die Errichtung eines Staates im Gazastreifen und im Nordsinai angeboten. Gaza solle demnach um 1.600 Quadratkilometer erweitert und die Verwaltung der Städte in der Westbank von der PA übernommen werden. Im Gegenzug solle sie auf die Gründung eines Staates in den Grenzen von 1967 verzichten. Abbas dementierte umgehend, räumte aber ein, der 2013 gestürzte ägyptische Expräsident Mohammed Mursi habe vorgeschlagen, palästinensische Flüchtlinge im Sinai anzusiedeln.
Die Idee ist nicht neu und machte bereits 2004 Schlagzeilen. Damals hatte Giora Eiland, Sicherheitsberater der Regierung in Tel Aviv, einen Landtausch zwischen Israel und Ägypten angeregt. Ein Vorschlag, der als unrealistisch galt. Heute jedoch haben sich die Kräfteverhältnisse in der Region geändert. Der Zeitpunkt, einen solchen Deal voranzutreiben, sei nie günstiger gewesen, meint etwa Mamduh Habashi von der ägyptischen Partei Sozialistische Volksallianz. Die arabischen Staaten seien stark geschwächt. Syrien, Libyen und Jemen versinken im Krieg, Tunesien und Ägypten hängen am Tropf des Internationalen Währungsfonds und Algerien ist mit sozialen Spannungen und Machtkämpfen innerhalb des Regimes beschäftigt. Wirkungsvoller Widerstand aus der arabischen Welt ist derzeit nicht zu erwarten.
Führungskader der Fatah von Abbas wiegeln kategorisch ab. »Solch ein Deal kommt für uns unter keinen Umständen in Frage«, erklärt Hasem Abu Schanab, Mitglied des Fatah-Revolutionsrates, gegenüber junge Welt. Die Partei hatte sich erst im November nach ägyptischer Vermittlung mit der islamistischen Hamas auf eine Teilung der Macht in Gaza geeinigt. Die PA übernahm danach erstmals seit Ausbruch des Bruderkrieges 2007 wieder die Verwaltung in dem Küstenstreifen. Hauptgrund für die Annäherung der Rivalen sei die Herstellung der nationalen Einheit gewesen, so Abu Schanab. Spekulationen über den »Jahrhundertdeal« hätten eine untergeordnete Rolle gespielt, so der Funktionär. Doch diskutiert wurden sie. Die Palästinenser nehmen das Gerede also offenbar ernst.
Ägypten nimmt bei dieser Frage eine Schlüsselrolle ein, verfolgt indes unter Al-Sisi eine ambivalente Linie. So stärkte Kairo durch seine Vermittlung im innerpalästinensischen Konflikt die Verhandlungsposition der PA und setzte sich dafür sogar mit der aus der Muslimbruderschaft hervorgegangenen Hamas an einen Tisch. Noch 2015 war diese am Nil offiziell als Terrororganisation eingestuft worden.
Dem stehen die jüngsten Entwicklungen im Nordsinai gegenüber, vor allem in Rafah an der Grenze zum Gazastreifen. Obwohl die Armee dort im Kampf gegen die Miliz eine Militäroffensive nach der anderen beginnt, bekommt sie die Situation nicht unter Kontrolle. Verweise auf die Sicherheitslage dienten auch dazu, die Einrichtung einer Pufferzone an der Grenze zu Gaza zu legitimieren. Dabei wird der ägyptische Teil von Rafah dem Erdboden gleichgemacht. Neben denjenigen, die von den Behörden vertrieben werden, verlassen immer mehr Menschen die Region – jahrelanger Terror, Ausnahmezustand und die Wirtschaftslage lassen kaum eine andere Wahl.
Während augenscheinlich sukzessive die Voraussetzungen für einen »Jahrhundertdeal« geschaffen werden, initiiert Al-Sisi im Sinai ein Investitionsprojekt nach dem anderen, um die Region wirtschaftlich zu entwickeln. Kairo setzt dabei vor allem auf eine Kooperation mit Saudi-Arabien. Riad plant unter anderem die Errichtung einer 500 Milliarden US-Dollar teuren Stadt im Nordwesten und einer sich über Teile Jordaniens und Ägyptens erstreckende Sonderwirtschaftszone. Als Teil dessen soll eine Brücke über den Golf von Akaba Saudi-Arabien mit dem Sinai verbinden.
Angesichts der saudisch-israelischen Annäherung und des Inseldeals mit Ägypten wird klar, dass tiefgreifende geopolitische Veränderungen in der Region bevorstehen. Der Sinai wird dabei eine zentrale Rolle spielen – welche genau bleibt indes unklar. Fraglich ist, ob Al-Sisi wirklich bereit ist, den Nordsinai an die Palästinenser abzutreten. In einem solchen Szenario erscheint auch die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt durch die US-Regierung in einem anderen Licht und kann als erster konkreter Schritt in Richtung Umsetzung des »Jahrhundertdeals« interpretiert werden. Die Palästinenser jedenfalls sind gewarnt.
Angespannte Lage im Nordsinai
Die jahrzehntelang vernachlässigte Provinz an der Grenze zum palästinensischen Gazastreifen zählt zu den ärmsten und am schlechtesten entwickelten Regionen Ägyptens. Während der Südsinai rund um den Urlaubermagnet Scharm Al-Sheikh zum Zugpferd der ägyptischen Tourismusindustrie aufstieg, blieb der Nordsinai marginalisiert. Die hier lebenden Beduinen und die Zentralregierung begegnen einander bis heute mit Misstrauen. Beduinen dienen nicht in der Armee und werden vom Staat nicht als vollwertige Bürger anerkannt.
Kairo verfügt nur über eingeschränkte Souveränität im Sinai, wurde die Halbinsel im Zuge des Friedensabkommens mit Israel doch weitgehend demilitarisiert. Die Abwesenheit des Staates im Nordsinai wird immer wieder als Grund dafür genannt, warum hier seit 2013 ein Rückzugsraum für radikale Islamisten entstehen konnte.
In der Tat begünstigte dieser Umstand die Ausbreitung einer Terrormiliz, die sich dem Islamischen Staat anschloss und seither eine beispiellose Reihe an Terroranschlägen im Land verübte. Ägyptens Armee lanciert im Sinai zwar eine Militäroffensive nach der anderen, bekommt die Sicherheitslage aber nicht in den Griff. Meist verübt die Gruppe Angriffe auf Sicherheitskräfte, reklamierte jedoch im November den Anschlag auf eine Moschee in Bir Al-Abd für sich. Bei dem Massaker wurden 311 Menschen getötet.
Die Regierung instrumentalisiert derweil die fragile Sicherheitslage für Kollektivbestrafungen der Zivilbevölkerung. Das Abreißen von Häusern mutmaßlicher Terroristen gehört im Nordsinai ebenso zum Alltag wie der Ausnahmezustand, Ausgangssperren und Schießereien während die Regierung mit der Errichtung einer fünf Kilometer breiten Pufferzone an der Grenze zum Gazastreifen die Tunnelwirtschaft austrocknen will. Im Zuge dessen wird die Grenzstadt Rafah fast vollständig dem Erdboden gleich gemacht. Auf einer Breite von 1,5 Kilometern steht hier schon heute kein Baum mehr. Da Entschädigungen nur für Gebäude entrichtet werden, aber nicht für Landbesitz, verlieren vor allem von der Landwirtschaft lebende Beduinen ihre Lebensgrundlage.
Die Regierung, die bereits die Zivil- und Strafgerichte aus Al-Arish in die Suezkanalzone verlegen ließ, plant zudem angeblich den Bau einer neuen Provinzhauptstadt kündigte im Dezember an, bis 2021 rund 4,7 Milliarden US-Dollar in die städtische Entwicklung von Bir Al-Abd zu investieren.
Tiran und Sanafir – Kairos dubioser Inseldeal mit Riad
Im April 2016 einigten sich Ägypten und Saudi-Arabien auf ein Demarkationsabkommen, das die Grenzziehung zwischen beiden Staaten neu regelte und die zwei Inseln Tiran und Sanafir an Riad übertrug. Der Deal löste eine Kontroverse in der ägyptischen Öffentlichkeit aus und führte erstmals seit 2014 zu nennenswerten regimekritischen Demonstrationen. Während die Regierung versuchte, mit historischen Dokumenten die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu beweisen, zogen Kritiker des Abkommens vor Gericht.
Nachdem das Oberste Verwaltungsgericht die Übergabe der Inseln in einem Urteil für unrechtmäßig erklärt hatte, schaltete sich das von Getreuen des Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi kontrollierte Parlament in die Debatte ein und beanspruchte die Entscheidungskompetenz in Sachen Tiran und Sanafir seither für sich. Im Juni 2017 stimmte die Mehrheit der Abgeordneten trotz der juristischen Uneindeutigkeit der Übergabe der strategisch wichtigen Inseln an Riad formell zu.
Tiran und Sanafir sind zwar unbesiedelt, liegen aber in der Mündung des Golfes von Akaba, jenem schmalen Seekorridor, der die israelische Küstenstadt Eilat mit dem Roten Meer verbindet. Durch die Übergabe der Inseln hat Riad bei der Kontrolle der Straße von Tiran, der Meerenge zwischen der gleichnamigen Insel und Ägyptens Touristenhochburg Scharm Al-Scheich im Südsinai, künftig mehr Einfluss.
Relevant ist das vor allem vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Camp-David-Vertrages, dem Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel von 1979. Dieses regelt nicht nur die Rückgabe des 1967 von Israel besetzten Sinai an Ägypten, sondern garantiert auch israelischen Schiffen, den Golf von Akaba zu passieren.
Angesichts der jüngsten Annäherung zwischen Riad und Tel Aviv verwundert es kaum, dass sowohl die israelische als auch die US-Regierung die Übergabe der Inseln an Saudi-Arabien abnickten. Dennoch steht seither die Frage im Raum, ob die Saudis, die offiziell keine Beziehungen zu Israel unterhalten, durch die veränderten Souveränitätsansprüche nicht auch formell dem Camp-David-Vertrag beitreten oder anderweitig anerkennen müssen.
© Sofian Philip Naceur 2018