Frustriert, aber friedlich und entschlossen begingen am Sonntag tausende Menschen in der Avenue Bourguiba, der Prachtallee in der Innenstadt von Tunis, und anderen Städten des Landes den siebten Jahrestag des Sturzes von Tunesiens Exdiktator Zine El Abidine Ben Ali. Am 14. Januar 2011 hatte sich dieser dem Druck wochenlanger landesweiter Massenproteste gebeugt und das Land fluchtartig in Richtung Saudi-Arabien verlassen. Doch politische Übergangsprozess ist zäh, langwierig und von einer heftigen Wirtschaftskrise sowie zunehmend autoritären Tendenzen der Eliten überschattet (erschienen in junge Welt am 18.1.2018).
Tunesien ist derzeit vor allem angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung tief gespalten. Die Regierungsparteien Nidaa Tounes von Staatspräsident Béja Caїd Essebsi, einem Sammelbecken für Ben Ali nahe stehende Kräfte, und die gemäßigt islamistische Ennahda setzen dabei auf altbewährte Rezepte und einigten sich mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) auf ein milliardenschweres an Sozialabbau und Strukturreformen geknüpftes Kreditpaket. Doch Tunesiens Zivilgesellschaft und die marginalisierte Jugend widersetzen sich nachdrücklich dem im Land heftig umstrittenen Austeritätskurs.
Der Staatshaushalt für 2018, der eine Mehrwertsteuererhöhung und Subventionskürzungen vorsieht, brachte das Fass vorerst zum Überlaufen. Aktivisten der Kampagne Fech Nestannew (Arabisch für „Worauf warten wir noch?“) riefen für den 7. Januar zu Protesten in Tunis auf. Diese griffen rasch auf andere Landesteile über und mündeten vielerorts in Ausschreitungen zwischen Protestlern und der Polizei.
Zwar mobilisierte die Kampagne erst wieder für den 12. Januar, doch die Spontanproteste hatten sich verselbstständigt und tägliche Krawalle in zahlreichen Städten zur Folge. Offiziellen Angaben zufolge wurden dabei bis zum Wochenende mindestens 803 Menschen verhaftet und 97 Polizisten verletzt.
Derweil stellten sich die Volksfront, ein linkes Parteienbündnis, und der Gewerkschaftsdachverband UGTT hinter die Anliegen der Kampagne. Auch sie riefen zu friedlichen Demonstrationen gegen den Staatshaushalt und das Diktat des IWF auf. Man wolle den Austeritätskurs der Regierung neu verhandeln, sagte Henda Chennaoui, Sprecherin der Kampagne, dem Nachrichtenportal Middle East Eye. Der Sozialvertrag zwischen Gesellschaft und politischen Parteien sei gebrochen worden, zitiert sie die französische Wochenzeitung Jeune Afrique.
Chennaoui spielt damit auf die Unfähigkeit oder den mangelnden Willen der Regierung an, eine sozialverträgliche Lösung der Krise voranzutreiben. Denn während eine Mehrwertsteuererhöhung und Subventionskürzungen beschlossen wurden, geht die Regierung nur halbherzig gegen die dürftige Steuermoral im Land vor. Auch Steuerhinterziehung und Korruption werden kaum oder nur unzureichend geahndet. Regierungschef Youssef Chahed erklärte letzterer zwar öffentlichkeitswirksam den Kampf an, doch das von Präsident Essebsi initiierte Gesetz zur nationalen Aussöhnung sieht eine Amnestie für Korruptionsverbrechen aus der Ben Ali-Ära vor und wird von der Opposition strikt abgelehnt.
Kein Wunder also, dass sich von dieser Politik Benachteiligte abermals auf den Straßen des Landes Luft machen. Die Lasten seien ungleich verteilt, heißt es immer wieder. Die Regierung sei auf die Senkung des Budgetdefizits fixiert und habe die sozialen Kosten der Reformen für die Bevölkerung nicht auf dem Radar, meint Max Gallien von der London School of Economics im Interview mit France24. Zwar reagierte die Regierung am Wochenende auf die Forderungen der Protestbewegung und kündigte nach einer Krisensitzung mit Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern zusätzliche Ausgaben für einkommensschwache Familien an, doch es ist fraglich, ob diese Versprechen den anhaltenden Protesten den Wind aus den Segeln nehmen können.
Denn zusätzlich zu der angespannten sozialen Lage fürchten Zivilgesellschaft und Opposition auch politische Rückschläge, schließlich agieren Tunesiens Eliten zunehmend autoritär. Die in der 2014 verabschiedeten Verfassung vorgesehene Einrichtung eines Verfassungsgerichtes ist ebenso längst überfällig wie die Abhaltung der mehrmals verschobenen Kommunalwahlen. Massiver Widerstand gegen den von der politischen Führung ausgebremsten politischen Übergang ist offenbar genauso dringend notwendig wie die derzeitigen Proteste gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Tunesiens hartnäckige Gewerkschaften
Tunesiens politisierte und äußerst aktive Zivilgesellschaft gilt als unersetzlich für den politischen Übergangsprozess im Land, die Heterogenität der Zivilgesellschaft als wesentlicher Faktor für deren Fähigkeit, Regierung und Eliten auch sieben Jahre nach den Massenaufständen gegen Ben Ali weiterhin unter Druck zu setzen. Denn neben den vor allem von Tunesiens Mittelschicht getragenen Protesten in den urbanen Zentren des Landes, die sich für politische Reformen und gesellschaftliche Freiheiten stark machen, spielen auch Tunesiens Gewerkschaften eine Schlüsselrolle im Kampf für soziale Gerechtigkeit und für mehr wirtschaftliche und soziale Teilhabe der einkommensschwachen und marginalisierten Bevölkerung.
Zentraler Akteur der Arbeiterbewegung ist der halbstaatliche Gewerkschaftsdachverband UGTT (Union Générale Tunesienne du Travail). Schon Ben Ali hatte Schwierigkeiten, die UGTT unter Kontrolle zu bekommen und konnte diese nur partiell kooptieren. Seit 2011 hat der mächtige Dachverband seinen Einfluss auf politische Entwicklungen im Land zusätzlich ausbauen können. Streiks, Sit-Ins oder Proteste haben die Regierung immer wieder zum Einlenken oder zumindest zu Kompromissen gezwungen. Klientelismus ist zwar auch in der UGTT ein Problem, doch gilt der Verband mit Sitz in Tunis als treibende und zentrale Kraft der Protestbewegungen in den ländlichen Gebieten im Süden des Landes.
Die immer wieder diskutierte Erhöhung des Renteneintrittsalters ist bisher vor allem am Widerstand der UGTT gescheitert, während sich diese derzeit gegen das beschlossene Einfrieren der Gehälter im Staatsdienst zur Wehr setzt. Nicht umsonst können Regierung und IWF in Tunesien eine weniger radikale neoliberale Politik durchsetzen als beispielsweise in Ägypten, denn dort ist der Widerstand der Gewerkschaften gegen entsprechende Reformen weitgehend gebrochen.
Doch auch Tunesiens Gewerkschaften haben mit heftigem Gegenwind zu kämpfen. Während die Phosphat-Minen in Gafsa immer wieder Schauplatz von Arbeitnehmerprotesten sind, eskalierten im Frühjahr 2017 die monatelangen Demonstrationen in den Ölförderstätten von Al-Kamour in der Provinz Tataouine nachdem ein Demonstrant getötet und Dutzende verletzt worden waren. Als Reaktion auf die Unruhen erließ Staatschef Béja Caїd Essebsi ein umstrittenes Präsidialdekret, dass Produktionsstätten, sensible Anlagen und deren Umgebung zu militärischen Sperrzonen erklärte, die künftig von der Armee überwacht und abgesichert werden sollen.
Die tunesischen „Strukturreformen“
Nordafrikas Volkswirtschaften stecken in tiefen Wirtschafts- und Währungskrisen. Neben Marokko und Ägypten setzt dabei auch Tunesien auf umstrittene Strukturreformen und treibt zusammen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) eine Liberalisierung der Wirtschaft voran. Schon 2016 einigte sich die Regierung in Tunis mit dem IWF auf ein Kreditpaket in Höhe von 2,9 Milliarden US-Dollar, das an weitreichende Sparmaßnahmen, Steuererhöhungen und Privatisierungen geknüpft ist. Anfang 2017 fror der IWF jedoch die zweite fällige Überweisung vorerst ein und begründete die Maßnahme mit einem Mangel an Fortschritten bei vereinbarten Reformen.
Im Dezember verkündete die weiterhin stur auf sozialpolitisch polarisierende Maßnahmen setzende Bank eine Einigung mit der Regierung, die versprach, im Rahmen des Staatsbudgets für 2018 das Haushaltsdefizit unter fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und die Ausgaben für Gehälter im Staatsdienst zu reduzieren. Auch müssten Subventionen reduziert und der tunesische Dinar freigegeben werden.
Offiziellen Angaben zufolge liegt die Inflation bei rund sieben Prozent, doch angesichts massiver Preissteigerungen seit Jahresbeginn dürfte sie inzwischen weitaus höher sein. Seit 2013 verlor der Dinar zudem real fast 50 Prozent an Wert. Dennoch setzt der IWF Tunesiens Zentralbank weiterhin unter Druck und fordert von dieser, Markteingriffe zugunsten einer Stabilisierung des Dinars zu unterlassen. Während der IWF Ägypten einer Schocktherapie unterzog – dort brach das ägyptische Pfund über Nacht um fast 50 Prozent ein – verfolgt er in Tunesien eine Strategie der schrittweisen Währungsabwertung.
Dabei spricht der IWF in einer Stellungnahme eines der zentralen volkswirtschaftlichen Problem Tunesiens durchaus an. Denn Korruption und die mangelhafte staatliche Verfolgung entsprechender Vergehen, aber auch massive Probleme beim Eintreiben von Steuern sowie der Einhaltung geltender Steuergesetze sind und bleiben entscheidende Faktoren für die niedrigen Staatseinkünfte und damit für die anhaltende Wirtschaftskrise.
Eine Liberalisierung ohne eine Verbesserung der Produktionskapazitäten riskiere einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Verschlechterung der bereits defizitären Zahlungs- und Handelsbilanz und erhöhe die Aufwendungen für den Schuldendienst, schreibt Jihen Chandoul in einem Bericht des tunesischen Observatoire Tunesien de l‘Economie. Im Gegensatz zum umstrittenen Vorgehen des IWF schlägt sie das Ausarbeiten einer mittel- bis langfristigen Strategie für die industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung des Landes vor, um die lokale Produktion anzukurbeln und damit Jobs zu schaffen. Sämtliche Verhandlungen über Reformen mit dem IWF sollten an die Einhaltung dieser Strategie geknüpft sein, so Chandoul.
In der Tat sind die schwache industrielle Basis, die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit und die große Schattenwirtschaft des Landes keine guten Voraussetzungen für die vom IWF und der Regierung in Tunis verfolgte Krisenpolitik, setzt diese doch auf eine makroökonomische Kanalisierung der Krise und nicht auf die Behebung volkswirtschaftlicher Defizite der Realwirtschaft. Doch wie die jüngste Protestwelle gegen Sozialabbau abermals vor Augen führt, haben IWF und Tunesiens Exekutive die Rechnung ohne die politisierte Zivilgesellschaft gemacht. Denn Gewerkschaften, die Opposition und die frustrierte Jugend des Landes machen weiterhin mobil gegen den Austeritätskurs.
© Sofian Philip Naceur 2018
LabourNet Germany Die Proteste in Tunesien reißen nicht ab – und richten sich immer mehr gegen den Internationalen Währungsfonds » LabourNet Germany
[…] „Proteste in Tunesien – „Worauf warten wir noch?““ am 18. Januar 2018 bei Sofian Philipp N… auf seinem Blog führt zur wirtschaftlichen Problematik und den Protesten, die sie hervor ruft, unter anderem aus: „Tunesien ist derzeit vor allem angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung tief gespalten. Die Regierungsparteien Nidaa Tounes von Staatspräsident Béja Caїd Essebsi, einem Sammelbecken für Ben Ali nahe stehende Kräfte, und die gemäßigt islamistische Ennahda setzen dabei auf altbewährte Rezepte und einigten sich mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) auf ein milliardenschweres an Sozialabbau und Strukturreformen geknüpftes Kreditpaket. Doch Tunesiens Zivilgesellschaft und die marginalisierte Jugend widersetzen sich nachdrücklich dem im Land heftig umstrittenen Austeritätskurs. Der Staatshaushalt für 2018, der eine Mehrwertsteuererhöhung und Subventionskürzungen vorsieht, brachte das Fass vorerst zum Überlaufen. Aktivisten der Kampagne Fech Nestannew (Arabisch für „Worauf warten wir noch?“) riefen für den 7. Januar zu Protesten in Tunis auf. Diese griffen rasch auf andere Landesteile über und mündeten vielerorts in Ausschreitungen zwischen Protestlern und der Polizei. Zwar mobilisierte die Kampagne erst wieder für den 12. Januar, doch die Spontanproteste hatten sich verselbstständigt und tägliche Krawalle in zahlreichen Städten zur Folge. Offiziellen Angaben zufolge wurden dabei bis zum Wochenende mindestens 803 Menschen verhaftet und 97 Polizisten verletzt. Derweil stellten sich die Volksfront, ein linkes Parteienbündnis, und der Gewerkschaftsdachverband UGTT hinter die Anliegen der Kampagne. Auch sie riefen zu friedlichen Demonstrationen gegen den Staatshaushalt und das Diktat des IWF auf. Man wolle den Austeritätskurs der Regierung neu verhandeln, sagte Henda Chennaoui, Sprecherin der Kampagne, dem Nachrichtenportal Middle East Eye. Der Sozialvertrag zwischen Gesellschaft und politischen Parteien sei gebrochen worden, zitiert sie die französische Wochenzeitung Jeune Afrique“. […]