Die Verleihung des Sakharov-Preises für Meinungsfreiheit durch das EU-Parlament sorgt dieses Jahr bereits im Vorfeld für Wirbel. Die Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL), der Linksblock im EU-Parlament, hatte für die anstehende Verleihung drei Menschen aus arabischen Ländern nominiert, die sich dort vor Ort für die Meinungsfreiheit einsetzen. Neben dem tunesischen Rapper Ala Yaacoubi und dem marokkanischen Musiker Mouad Belghouate – beide derzeit wegen Beleidigung der Polizei inhaftiert – wollte die GUE/NGL den ägyptischen Blogger und Menschenrechtler Alaa Abdel Fattah ins Rennen schicken. Anfang Oktober zog die Fraktion die Nominierung Abdel Fattahs jedoch unter Verweis auf einen umstrittenen Twitterpost Abdel Fattahs zurück, in dem er angeblich zum Mord an „einer kritischen Anzahl an Israelis“ aufgerufen habe. Die Vorsitzende der GUE/NGL-Fraktion im EU-Parlament Gabi Zimmer erklärte daraufhin in einer Stellungnahme der Fraktion man habe zum Zeitpunkt der Kandidatenauswahl nichts über Abdel Fattahs umstrittenen Tweet gewußt. „Wir können und werden ein solches Verhalten nicht tolerieren“, so Zimmer weiter (erschienen in Junge Welt am 10.10.2014).
Abdel Fattah ist eine der wenigen noch verbliebenen Aktivisten der revolutionären Jugend Ägyptens, die sich trotz des rigorosen Vorgehens des Staates gegen die Opposition nach wie vor nicht einschüchtern läßt und maßgeblich an den Massenprotesten gegen Ex-Präsident Hosni Mubarak 2011 beteiligt war. Seither kämpft er für die Durchsetzung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit und zählt zu den schärfsten Kritikern des umstrittenen Protestgesetzes, auf dessen Grundlage seit November 2013 hunderte Menschen zu drakonischen Haftstrafen verurteilt wurden. Abdel Fattah selbst wurde im Juni wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz zu 15 Jahren Haft verurteilt und erst im September nach Beginn eines Hungerstreiks auf Kaution freigelassen.
In einer am Dienstag veröffentlichen Stellungnahme Abdel Fattah zu den Vorwürfen zeigte er sich überrascht über die Begründung des Rückziehers. Der betroffene zwei Jahre alte Tweet sei aus dem Kontext gerissen. Abdel Fattah betont in der Stellungnahme bei dem betroffenen Tweet handle es sich um einen Auszug aus einer privaten Diskussion mit zwei Freunden, die er in der ersten Nacht des Gaza-Krieges 2012 geführt habe. Er räumt ein die Nachricht sei isoliert zitiert „schockierend“, könne aber keinesfalls als direkter Aufruf verstanden werden Israelis zu töten. Über seine Wortwahl kann man indes streiten.
Die GUE/NGL habe zudem keine Versuche unternommen zwecks Klärung des Sachverhalts Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er sei seitens der Fraktion weder über die Nominierung noch über den Rückzug von dieser informiert worden, bestätigt Abdel Fattah gegenüber jW. „So zu tun, als ob man diesen Tweet zwei Jahre später interpretieren könne, ohne Rücksprache mit den an dem Gespräch beteiligten Menschen zu führen und zu behaupten, dass es einen Anruf zum Handeln darstellt, ist lächerlich“, sagt er weiter.
Eine solche öffentliche Verurteilung beeinträchtige seine Sicherheit, fügt Abdel Fattah hinzu. Er verweist darauf, dass es nach der Entscheidung der GUE/NGL für seine Nominierung die Verantwortung der Fraktion gewesen wäre den Rückzug in einer Art und Weise durchzuführen, die ihn nicht gefährdet. Internationaler Druck habe sich positiv auf seine Freilassung ausgewirkt, doch ihm stehen Revisionsprozess und erneute Haft bevor. Das leichtsinnige Hin und Her der GUE/NGL-Fraktion und der öffentliche Entzug einer Solidaritätserklärung ist dabei gewiss nicht hilfreich.
Abdel Fattahs scharfe Kritik an der israelischen Besetzung der Palästinensergebiete ist zudem nichts Neues und Informationen über seine Positionen lassen sich recht einfach recherchieren. Die Kritik an seiner Positionierung im Nahostkonflikt seitens der GUE/NGL-Fraktion ist gewiss legitim, diese jedoch verkürzt und aus dem Kontext gerissen darzustellen, ist leichtsinnig. Schließlich hatte die GUE/NGL Abdel Fattah als Kandidaten für den Preis explizit ausgewählt, es jedoch nicht für nötig befunden sich vorher mit seiner Person ausreichend auseinanderzusetzen.
© Sofian Philip Naceur 2014