Generalstreik legt Tunesien lahm

Tunesiens Gewerkschaftsverband UGTT hat am Donnerstag mit einem landesweiten Generalstreik das Land praktisch Lahm gelegt. Rund 670000 Staatsangestellte und 200000 Mitarbeiter staatlicher Unternehmen waren aufgefordert, für 24 Stunden die Arbeit niederzulegen und damit Forderungen nach Gehaltserhöhungen und einem Abrücken der Regierung von ihren Privatisierungsplänen Nachdruck zu verleihen. Neben dem öffentlichen Dienst wurden auch der Gesundheits- und Bildungssektor sowie der Nahverkehr und Staatsmedien bestreikt. An Tunesiens Flughäfen ging gar nichts mehr (erschienen in junge Welt am 19.1.2019).

Allein vor dem Hauptsitz der UGTT nahe der Altstadt von Tunis versammelten sich mindestens 7000 Menschen, zogen anschließend durch die Innenstadt und skandierten regierungskritische Parolen. Erst am Dienstag waren die seit Monaten laufenden Verhandlungen mit der Regierung von Premierminister Youcef Chahed für gescheitert erklärt worden. „Wir haben im Rahmen unserer akzeptablen Grenzen Zugeständnisse gemacht“, hatte Chahed am Mittwoch im Staatsrundfunk erklärt.

In der Tat war die Regierung der UGTT in Sachen Gehaltserhöhungen entgegengekommen, war aber weit unter den Forderungen der Gewerkschaft geblieben. Auf den Vorschlag der UGTT, gemeinsame Kommissionen zur Reform defizitärer Staatsfirmen einzusetzen, um deren Privatisierung zu verhindern sowie die Forderung, grundsätzlich von Privatisierungen Abstand zu nehmen, reagierte sie jedoch nicht. Entsprechend macht die UGTT die Regierung für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich. „Die Position der Regierung, die sich den Direktiven des Internationalen Währungsfonds (IWF) gebeugt hat und die ungerechtfertigte und unakzeptable Annahme von dessen Bedingungen, lässt uns keine andere Wahl als zum Streik zu greifen“, hatte UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi schon am Montag erklärt. Die Regierung solle lieber gegen die weit verbreitete Steuerhinterziehung vorgehen.

Der Streik richtet sich dabei auch gegen die Politik des IWF. Im Gegenzug für ein 2,8 Milliarden US-Dollar schweres Kreditpaket hatte dieser umfassende Austeritätsmaßnahmen wie einen Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst und Subventionskürzungen eingefordert. Die UGTT-Zeitung „Das Volk“ druckte auf ihrer Titelseite ein Bild von Chahed als Marionette von IWF-Chefin Christine Lagarde ab. Die Wut der Bevölkerung über die von Regierung und IWF durchgedrückte Sparpolitik ist dabei wenig verwunderlich, ist die soziale Lage doch angespannter denn je. Die Inflation liegt mittlerweile bei 7,5 Prozent, der Kaufkraftverlust bei 40 Prozent.

Der Verband sei derweil in der Lage Budgetrestriktionen des IWF oder die Privatisierungspläne der Regierung zurückzudrängen, meint Mohamed-Dhia Hammami von der Wesleyan University in den USA, der sich intensiv mit der politischen Rolle der Gewerkschaft in Tunesien beschäftigt. „Die UGTT hat die Fähigkeit, das Land unregierbar zu machen. Sie hat mehr Mitglieder und Filialen als jede politische Partei Wähler hat“, so Hammami gegenüber jW. „Der Erfolg des Streiks schwächt Chahed und erlaubt der UGTT, ihre politische Stärke geltend zu machen. Angesichts der Unterstützung fast aller politischer Parteien isoliert die Gewerkschaft Chahed politisch weiter und untergräbt seine Popularität“, meint der Wissenschaftler. Er zeige aber auch, dass ausländische Kreditgeber, die auf solche Reformen drängen, ernsthafte Schwierigkeiten haben, sich durch die Komplexität der lokalen politischen Szene zu manövrieren.

Die erfolgreiche Massenmobilisierung der UGTT zeigt Geldgebern und der Regierung damit klar ihre Grenzen auf und hat eindrucksvoll bewiesen, dass mit ihr ein mächtiger Akteur auf Tunesiens politischer Bühne steht, der nicht gedenkt nur zuzuschauen und das Potential hat, den politischen Diskurs maßgeblich zu verschieben. Heute will die Gewerkschaft über weitere Schritte beraten und schließt weitere „eskalierende Maßnahmen“ nicht aus. Angesichts der im Herbst anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen könnte Tunesiens politische Gemengelage daher derzeit komplexer und offener nicht sein.

© Sofian Philip Naceur 2019

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