Die Coronakrise hält auch die Länder Nordafrikas in Atem. Zwar wird Tunesien im Umgang mit der Pandemie im allgemeinen eine relativ vorausschauende Politik attestiert, hatten Staatspräsident Kais Saïed und Premierminister Elyes Fakhfakh doch schon früh einschneidende Maßnahmen eingeleitet. Doch seit Wochenbeginn zeigt sich im Land erstmals konkret, welche sozioökonomische Sprengkraft eine wochenlange Ausgangssperre haben kann. Zwischen 18 und 6 Uhr darf man nicht auf die Straße, tagsüber sind alle dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben (erschienen in junge Welt am 3.4.2020).
Am Montag kam es in den Arbeitervierteln Mnihla und Ettadhamen im Norden von Tunis zu ersten Protesten. Hunderte Menschen versammelten sich vor einer Postfiliale und einem Regierungsbüro und forderten die Auszahlung der von der Regierung versprochenen Sonderhilfen für die sozial Benachteiligten sowie Genehmigungen, ihre jeweiligen Jobs fortsetzen zu dürfen. Autoreifen wurden angezündet, Straßen blockiert. Die Nationalgarde schritt ein und löste die Proteste auf.
Beide Viertel gelten als »soziale Brennpunkte« mit schlechter staatlicher Infrastruktur. Unzählige hier lebende Menschen haben praktisch weder soziale Absicherung noch ein festes Gehalt und sind daher auf die täglichen Erlöse ihrer prekären Jobs zwingend angewiesen. Hintergrund der Proteste vom Montag war dabei nicht nur die angespannte Lage vieler Menschen, sondern auch, dass die Behörden die in der Vorwoche gegebenen Versprechen nicht eingelöst hatten.
Fakhfakh hatte schon am 21. März ein umgerechnet fast 50 Millionen Euro schweres Sozialpaket für die von den Maßnahmen gegen die Coronaviruspandemie wirtschaftlich am schwersten Betroffenen angekündigt. Familien mit Kindern, die bisher keinerlei staatliche Unterstützung erhalten, und jene, die sich um ältere Menschen kümmern, sollten im Zuge dieser »außergewöhnlichen Sozialhilfe« umgerechnet rund 60 Euro erhalten. Wie und wann die Zahlungen erfolgen würden, war von den zuständigen Behörden jedoch nicht klar mitgeteilt worden.
Proteste gab es derweil auch in dem vom Staat jahrzehntelang vernachlässigten Gesundheitssystem. Am Dienstag versammelte sich das Personal eines Krankenhauses in der westtunesischen Provinz Kasserine vor der Klinik, nachdem bekanntgeworden war, dass sich ein dort beschäftigter Arzt mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Mitarbeiter forderten die unverzügliche Versorgung mit sanitärer Schutzausrüstung und Tests sowie die Erlaubnis, sich in Quarantäne begeben zu dürfen, da zahlreiche Beschäftigte mit dem infizierten Arzt in Kontakt gewesen waren. Wie der Radiosender Mosaique FM berichtete, gingen Polizeikräfte mit Tränengas gegen das Klinikpersonal vor.
Zwar hat Tunesiens Regierung mit dem Auflegen des Sozialpakets recht schnell auf zu erwartende sozioökonomische Folgen der Ausgangssperre reagiert. Die Proteste in Tunis und Kasserine zeigen jedoch, was auf wirtschaftlich schwache Länder trotz einer vorausschauenden politischen Linie in den nächsten Monaten zukommen wird. In Tunesien dürfte sich die Lage weiter verschärfen: Am Mittwoch verlängerte der Nationale Sicherheitsrat die Maßnahmen um zwei weitere Wochen.
© Sofian Philip Naceur 2020