Der 14. August 2013 war eine Zäsur in Ägyptens moderner Geschichte und ist ein Symbol geworden für den repressiven Umgang des ägyptischen Sicherheitsapparates und des restaurierten alten Regimes am Nil mit den gemäßigten Islamisten der Muslimbruderschaft. Sechs Wochen zuvor war Mohamed Mursi vom Militär als Staatspräsident abgesetzt worden. Innen- und Verteidigungsministerium begannen daraufhin mit ihrer Jagd auf Anhänger des gestützten Präsidenten. Tausende Mitglieder und Sympathisanten der Bruderschaft wurden inhaftiert, ihre politischen Strukturen im Inland zerschlagen und eine beispiellose Kampagne gegen die Organisation lanciert. Der Aufstieg des politischen Islams in Ägypten war damit gestoppt, die Strategie der Bruderschaft auf demokratische Prinzipien zu setzen und somit die Macht am Nil langfristig zu sichern gescheitert. Die Muslimbruderschaft hatte mit dem Wahlsieg Mohamed Mursis den Zenit ihrer politischen Macht erklommen und damit ihren raschen institutionellen Aufstieg im Staatsapparat Ägyptens gekrönt (in Junge Welt 15.8.2014).
Doch nur ein Jahr nach Mursis Amtseinführung steht die Organisation vor einem Scherbenhaufen, geht es den pragmatisch ausgerichteten Islamisten der Muslimbrüder doch vor allem um eines: politische Macht. Sicher, die Bruderschaft will eine Islamisierung der Gesellschaft, doch hat sie sich strategisch angepasst und kompromissbereiten Kadern den politischen Aufstieg erlaubt. Doch wollten Ägyptens moderate Islamisten zu schnell die Weichen in Richtung dauerhaftem politischen Einfluss am Nil stellen. Die Muslimbruderschaft hatte sich verkalkuliert und die alten Seilschaften des 2011 partiell gestürzten Regimes Hosni Mubaraks und die feindliche Haltung des Militärapparat gegenüber der über 80 Jahre alten Organisation unterschätzt.
„Den größten Fehler, den die Muslimbrüder gemacht haben, war es mit den radikalislamistischen Salafisten der Partei Das Licht zu koalieren“, sagt Abdulbar Zahran von der neoliberalen Partei der Freien Ägypter. Im Gegensatz zu den moderaten Islamisten Tunesiens und Marokkos setzten die ägyptischen Muslimbrüder auf einen radikalen Koalitionspartner. Die Salafisten und der politische Arm der Muslimbruderschaft, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), ließen trotz massiver Proteste gegen ihr kompromissloses Vorgehen in der verfassungsgebenden Versammlung im Dezember 2012 die neue islamistische Verfassung durch die Institutionen peitschen. Nicht zu Unrecht wurde Mursi vorgeworfen er würde die Macht monopolisieren. Doch Ägyptens altes Regime war immer noch zu mächtig und nutzen die Unzufriedenheit breiter Teile der Gesellschaft mit den damals noch regierenden Islamisten geschickt. Im Juli 2013 bekamen Mursi und seine Bruderschaft die Quittung für ihre verfehlte übereifrige Machtpolitik und wurden gewaltsam gestürzt.
Derweil haben die moderaten Islamisten Tunesiens, Algeriens und Marokkos andere Wege eingeschlagen, auch um dem ägyptischen Szenario zu entgehen. Die gemäßigten Islamisten der algerischen Bewegung für die Gesellschaft und den Frieden (MSP) koalierten mit den militärnahen politischen Kräften im Land und saßen von 1997 bis 2012 auf der Regierungsbank. Der marokkanische König Mohamed V reagierte auf die regimekritischen Proteste in Marokko während der arabischen Revolten 2011 mit einer partiellen Öffnung des politischen Systems. Seither stellt die moderat islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) mit Abdellilah Benkirane den Premierminister. In beiden Fällen drohten den Islamisten nach ihrer Beteiligung an der Regierung empfindliche Wahlschlappen, haben sie in Regierungsverantwortung doch gezeigt, dass sie ebenso wenig zu progressiven politischen Reformen und spürbaren Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage fähig sind. Algeriens MSP droht das Abtauchen in die Bedeutungslosigkeit. Marokkos PJD muss sich 2015 bei den Parlamentswahlen beweisen und ihr droht eine empfindliche Wahlniederlage.
In Tunesien haben die moderaten Islamisten von Rachid Ghannouchis Ennahda-Partei zwar eine Mehrheit im Parlament, doch auch hier droht ihnen bei den im Herbst anstehenden Parlamentswahlen ein Verlust an Stimmen. Insbesondere Tunesiens Islamisten haben eine andere Strategie als die ägyptischen Muslimbrüder eingeschlagen, pflegen sie zwar ebenso Verbindungen zu salafistischen Kräften im Land, doch koalierten sie mit zwei kleinen säkularen Parteien und gingen geschickt auf die anderen politischen Lager Tunesiens zu. Nach den Ermordungen der Oppositionspolitiker Chokri Belaïd und Mohamed Brami in Tunis im Januar und Juni 2013 zog sich Ennahda nach Massenprotesten und einem Generalstreik schrittweise aus der Regierung zurück und machte den Weg frei für einen lagerübergreifende politischen Übergangsprozess. Auch kurz vor der Parlamentswahl setzt Ennahda auf moderates Auftreten, auch wenn sie ebenso wie in Ägypten hin und wieder mit Schlägertrupps auf die Straßen zieht, Frauen angreift und versuchte die linksliberalen Strukturen an den Universitäten unter Druck zu setzen. So verkündete Ennahda bei den Präsidentschaftswahlen keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Die Partei strich zudem mehrere Politiker von ihren Wahllisten für die Parlamentswahl, die zum radikalen Flügel der Partei zählen.
Ennahda will eine Integration ins politische System. Das ägyptische Szenario war ein Warnschuss. Im Falle Tunesiens muss Ennahda zwar kein Eingreifen des Militärs befürchten – Tunesiens Armee ist unpolitisch und nicht ansatzweise so einflussreich wie am Nil – doch Tunesien hat eine entwickelte und starke Zivilgesellschaft, die seit der Revolution mehrfach gezeigt hat, dass sie mit Massenprotesten und Generalstreiks jede Regierung unter massiven Druck setzen kann, wenn sie dem Ruf der Straße nicht folgt. Tunesien wird mit dem politischen Islam leben müssen, schließlich erscheint Tunesiens Ennahda bisher die einzige pragmatisch orientierte Partei in der Region zu sein, die fähig ist sich auf Kompromisse einzulassen und aus den Erfahrungen in den Nachbarländern gelernt zu hat.
© Sofian Philip Naceur 2014