Immer mehr Menschen flüchten vor der Gewalt in Libyen in das inzwischen überforderte Nachbarland Tunesien. Das politische Vakuum in Libyen und zunehmende islamistisch motivierte Gewalt in der Region unterfüttern derweil Gerüchte über eine mögliche Militärintervention Algeriens und Ägyptens in Libyen.
Libyens Regierung ist kollabiert, das von islamistischen Kräften dominierte neu gewählte Parlament faktisch arbeitsunfähig. Derweil nehmen grenzübergreifende Attacken libyscher Islamistengruppen auf Tunesien und Ägypten stark zu. Die unübersichtliche innenpolitische Lage in Libyen drei Jahre nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis hat sicherheitspolitisch heftige Auswirkungen auf die gesamte Region. Politisch und militärisch wächst der Einfluss radikaler Islamisten im Wüstenstaat. Während sich Europäische Union, US-Regierung und Nato sicher nicht noch einmal militärisch in Libyen einmischen werden, wird eine Militärintervention Algeriens und Ägyptens im Nachbarland derzeit heiß diskutiert. Die Regierungen in Algier und Kairo weisen solche Meldungen weiter entschieden zurück, doch ein militärisches Eingreifen ägyptischer und algerischer Truppen in Libyen wird immer wahrscheinlicher, meinen Beobachter in Tunis. Zu stark haben die libyschen Islamisten ihren Aktionsradius ausgeweitet und bedrohen damit die regionale Sicherheit ganz Nordafrikas.
Der in der ostlibyschen Region Benghazi einflussreiche General Khalifa Haftar, der schon vor Wochen damit begann im Kampf gegen den Einflussgewinn islamistischer Kräfte im Land zahlreiche Milizen hinter sich zu vereinen, sagte am Wochenende die Beteiligung arabischer Truppen im innenpolitischen Konflikt in Libyen sei „nicht länger unwahrscheinlich“. Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi dementierte zwar, dass Ägyptens Armee bereits in Libyen aktiv geworden sei, betonte jedoch die Aufgabe der ägyptischen Streitkräfte sei die „Verteidigung der nationalen Sicherheit“ – eine durchaus zweideutige Formulierung. Libysche Extremisten hatten das Land schließlich zuletzt tief in ägyptischem Staatsgebiet attackiert und Ägyptens Militär könnte bei der Jagd auf die Angreifer durchaus die Grenze überquert haben. Derweil schloss der algerische Premier Abdelmalek Sellal eine Militärintervention Algeriens im Nachbarland Libyen kategorisch aus und betonte, die einzige Lösung der Krise in Libyen sei die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Algerien macht derweil an der Grenze zu Tunesien mobil, um gemeinsam mit Tunesiens Armee gegen die Islamistengruppe Ansar al-Sharia vorzugehen, die zuletzt mehrere Angriffe auf tunesische Armeeposten lanciert hatte.
Derweil berichtet die algerische Tageszeitung el-Watan Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika sei bereit zusammen mit Ägypten einen „Krieg gegen die Djihadisten in der Region“ zu starten. In der Tat haben beide Länder zuletzt ihre Kooperation im Anti-Terror-Kampf stark ausgeweitet. Während Tunesiens Militär schlicht die Kapazitäten für derartige Operationen fehlen, sind Algeriens Streitkräfte gut ausgerüstet. Das Land wird mittlerweile auch von Deutschland hochgerüstet. Allein im Jahr 2014 liefern deutsche Unternehmen Waffen im Wert von über 850 Millionen Euro nach Algerien. Die Lieferungen seinen notwendig, um die Sicherheit in der Region zu gewährleisten, heißt es in Algier und Berlin. Schließlich floriert der Waffenhandel im Maghreb und islamistische Gruppen konnten sich in den vergangenen drei Jahren problemlos mit Rüstungsgütern aus Gaddafis alten Beständen versorgen. Die Nato hatte 2011 die damals noch einheitlich agierenden Gaddafi-Gegner militärisch unterstützt, doch erwies sich diese Strategie zum sicherheitspolitischen Boomerang. Die nach Libyen gelieferten Waffen verbreiteten sich unkontrolliert in ganz Nordafrika. Nach dem Sturz Gaddafis waren es Waffen aus Libyen, die den Konflikt in Mali anheizten. Zudem sind diese Waffen in die Hände von Extremisten in Tunesien, Ägyptens Sinai-Halbinsel und Algerien geraten. Die Region ist sicherheitspolitisch instabiler denn je. Sollten Algerien und Ägypten tatsächlich in Libyen eingreifen, ist jedoch keineswegs mit einer großangelegten Invasion zu rechnen. Dennoch wären selbst grenznahe Operationen ägyptischer und algerischer Truppen auf libyschem Boden ein deutliches Zeichen für das vorläufige Scheitern des politischen Übergangs in Libyen und ein Symbol für eine verfehlte Sicherheitspolitik der Nato in der Region.
Die chaotischen Zustände in Libyen sind mittlerweile auch in den Nachbarländern spürbar. Erneut flüchten tausende Menschen vor der anhaltenden Gewalt in Libyen nach Tunesien und Ägypten. Täglich überqueren derzeit über 5000 Menschen den Grenzübergang Ras Jedir im Nordosten Tunesiens, unter ihnen zahlreiche ägyptische Staatsbürger. Die Regierungen in Kairo hat bereits rund 12200 ägyptische Flüchtlinge, die auf der libyschen Seite Ras Jedirs fest saßen, evakuiert. Tunesien hatte den Grenzübergang Anfang August vorläufig gschlossen. Der Andrang an der Grenze sei zu groß gewesen, hieß es in Tunis. Die Grenze war zuletzt immer wieder Schauplatz von Flüchtlingswellen aus dem krisengebeutelten Libyen. Tunesiens Regierung ist ob der hohen Anzahl an flüchtenden Menschen aus Libyen mittlerweile überfordert. Es sollen sich rund eine Million Libyer im Land aufhalten. Dabei hat Tunesien selber nur rund elf Millionen Einwohner. Da libysche Staatsbürger oft keine finanziellen Hilfen benötigen hat der Exodus aus Libyen für das kleine Tunesien eher soziopolitische Auswirkungen. Der Wohnungsmarkt ist unter Druck, die Inflation steigt und Benzin ist knapp.
© Sofian Philip Naceur 2014