Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Politikwissenschaftler an der Universität Marburg, über die Präsidentschaftswahl in Algerien, systematischen Wahlbetrug und warum die wichtigste Personalentscheidung erst noch bevorsteht.
Algeriens amtierender Präsident Abdelaziz Bouteflika hat erwartungsgemäß die Präsidentschaftswahlen mit Abstand gewonnen. Warum ist dieser schwer kranke Mann erneut angetreten und gab es Wahlbetrug?
Ouaissa: Urnengänge in Algerien werden grundsätzlich gefälscht. Sowohl die offiziellen Endergebnisse als auch die Zahlen zur Wahlbeteiligung unterliegen keiner unabhängigen Prüfung. Ergebnisse werden bereits im Vorfeld der Wahlen hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und so war es auch dieses Mal. Doch diese Wahl war surreal. Das Regime in Algier bot mit Bouteflika einen Kandidaten auf, der aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit nicht fähig ist das Amt auch wirklich auszuüben. Seine Berufung hat jedoch handfeste Gründe. Algeriens Regime ist eine Staatsklasse, eine Art Kartell, dessen verschiedene rivalisierende Fraktionen hinter den Kulissen informelle Abmachungen zur Machtteilung vereinbaren. Offenbar konnten sich die wichtigsten Gruppen innerhalb des Apparates – Armee, Geheimdienst und Bouteflikas Partei, die Nationale Heilsfront (FLN) – nicht auf einen Nachfolger einigen und Boufeflika war daher gezwungen erneut zu kandidieren (erschienen in Junge Welt am 23.4.2014).
Wie geht es jetzt weiter? Der Kampf um Bouteflikas Nachfolge ist schließlich nur verschoben worden.
Ouaissa: Zunächst wird die neue alte Führung des Landes eine Reform der Verfassung in Angriff nehmen. Das hatte Bouteflikas Clan im Vorfeld der Wahlen mehrfach angekündigt. Eine zentrale Neuerung wird die Installation eines Vize-Präsidenten sein. Bisher gab es dieses Amt nicht. Der neue Schlüsselposten im Staatsapparat wird das Amt des Vize-Präsidenten werden, dessen Amtsträger bei einem Ableben Bouteflikas auf dessen Posten nachrücken kann. Die Entscheidung darüber wer diesen Posten übernehmen wird, ist am Ende wichtiger als die Präsidentschaftswahlen selbst. Dieses Prozedere erlaubt es Algeriens Staatsklasse die Entscheidung über Bouteflikas Nachfolge elegant zu lösen und ein Machtvakuum nach dessen Tod zu verhindern. Es wird somit kein politisches Vakuum geben, da regimeinterne Machtkämpfe bereits ausgestanden sein werden.
Wer kommt für dieses Amt in Frage?
Ouaissa: Als potentielle Vize-Präsidenten kommen nur Leute in die engere Auswahl, die durch normale Wahlen keine Chancen auf das Amt hätten. Zum einen wäre da Ahmed Ouyahia, ehemals Premierminister Bouteflikas und Ex-Chef der Nationalen Demokratischen Sammlung (RND), einer Abspaltung der FLN und deren langjähriger Koalitionspartner in der Regierung. Ouyahia gilt als arbeitsamer Bürokrat und er ist beliebt. Doch er gehört der Kabylen-Minderheit Algeriens an und es gilt noch immer als Tabu einen Kabylen zum Präsidenten zu wählen. Die zweite Option wäre Said Bouteflika, der Bruder des amtierenden Präsidenten. Said bewegt sich seit Jahren in den engeren Machtzirkeln und hat als Berater seines Bruders bereits jetzt enormen Einfluss. Seine Kandidatur wird schon länger heiß diskutiert, doch wäre er als Direktkandidat angetreten, hätte es größere Proteste oder gar Unruhen im Land gegeben. In Algerien gibt es Clans, die regieren und großen Einfluss haben, aber Familienclans sind nach wir vor für viele Menschen unvorstellbar und inakzeptabel.
Welche Rolle spielte Algeriens neue Protestbewegung „Barakat“ für den Urnengang?
Ouaissa: Die von „Barakat“ organisierten Demonstrationen haben durchaus Menschen mobilisieren können, doch beschränkt sich ihr Einfluss derzeit auf die urbanen Zentren im Norden des Landes und auf die Kabylei, die östlich von Algier gelegene mehrheitlich von Berbern bewohnte Provinz. „Barakat“ ist eine Allianz diverser oppositioneller Parteien, die meist dem islamistischen Lager nahe stehen. Aber auch die laizistische in der Kabylei verankerte Sammlung für Kultur und Demonkratie (RCD) hat sich der Allianz angeschlossen. Ihr Ziel war es gegen eine vierte Amtszeit Bouteflikas zu opponieren, doch die beteiligten Parteien konnten sich auf keinen Kandidaten einigen, den man alternativ zu Bouteflika unterstützen wollte. Daher rief „Barakat“ zum Wahlboykott auf und entwickelte sich zu einer regimekritischen Protestbewegung. Ob „Barakat“ ähnlich wie Ägyptens Kefaya-Bewegung (Arabisch für „Es reicht“), die schon Jahre vor der Revolution 2011 offen gegen Ägyptens Regime mobilisierte, einem größeren Aufstand den Weg bereiten kann, muss abgewartet werden.
© Sofian Philip Naceur 2014