Nach dem Verfassungsreferendum in Ägypten im Dezember 2012 waren am 14. und 15. Januar 2014 erneut rund 53 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, über eine neue Verfassung abzustimmen. Bei dem zur Wahl stehenden Entwurf handelt es sich lediglich um eine Neufassung der umstrittenen Verfassung von 2012. Die Freedom and Justice Party (FJP), der politische Arm der Muslimbruderschaft, und die salafistische Partei Al-Nour (Das Licht) hatten damals ihre absolute Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung genutzt und das von vielen Kritikern als islamistisch bezeichnete Dokument faktisch im Alleingang entworfen. Liberale, linke und christliche Mitglieder des Gremiums hatten schrittweise die Versammlung verlassen und boykottiert (Wahlanalyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, veröffentlicht am 23.1.2014).
Der damals noch regierende, aus den Reihen der Muslimbruderschaft stammende Staatspräsident Ägyptens, Mohamed Mursi, hatte die Verfassung trotz massiver Proteste der säkularen Opposition im Schnellverfahren durch die Institutionen gepeitscht, das Dokument wurde bei dem Referendum vor 13 Monaten von der Bevölkerung mit rund zwei Dritteln der Stimmen angenommen. Nach seiner Absetzung am 3. Juli 2013 durch Ägyptens Armee unter Federführung von Verteidigungsminister und Armeechef Abdel Fattah El-Sisi wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt und der vom Generalstab eingesetzte Übergangspräsident Adli Mansour ernannte eine neue verfassungsgebende Versammlung. Das fast ausschließlich aus neoliberalen Parteien und dem alten Regime des 2011 gestürzten autokratisch regierenden Präsidenten Hosni Mubaraks nahe stehenden Kadern dominierte Gremium – der „Rat der 50“ – war keineswegs demokratisch legitimiert, hatte jedoch Rückendeckung seitens des Militärs und politischer Gegner Mursis. Der Rat präsentierte Anfang Dezember 2013 einen neuen Entwurf.
Das jüngst abgehaltene Referendum über Ägyptens neue Verfassung wurde erwartungsgemäß von Gewalt überschattet. Während das Gros der liberalen und armeenahen Parteien den Entwurf unterstützte, wurde die gewerkschaftsnahe und armeekritische linke Opposition mundtot gemacht. Das umstrittene Dokument als institutionalisierte Restaurierung der alten sozioökonomischen Ordnung bestätigt die Vormachtstellung des Militärs und könnte als Einfallstor für Repressionen gegen unabhängige Gewerkschaften fungieren. Die Wahlbeteiligung beim jüngsten Urnengang am Nil lag nach offiziellen Angaben mit 38,6 Prozent höher als beim Verfassungsreferendum 2012, die mit 32 Prozent angegeben wurde. Die neue Verfassung Ägyptens wurde nach offiziellen Angaben mit 98,1 Prozent angenommen und ist seit dem 18. Januar offiziell in Kraft.
Proteste der Muslimbrüder münden in Gewalt
Die nach Mursis Absetzung im September 2013 per Gerichtsbeschluss verbotene und erst im Dezember von Ägyptens Übergangsregierung zur „terroristischen Vereinigung“ erklärte Muslimbruderschaft machte gegen die neue Verfassung mobil und boykottierte die Abstimmung. Wie die Zeitung Egypt Independent berichtet rief das von der Bruderschaft geführte Parteienbündnis, das Mursis Wiedereinsetzung als Staatspräsident fordert, eine Woche vor dem Referendum dazu auf, „friedlich“ gegen die Verfassung zu demonstrieren. Die Armee erhöhte ihre Präsenz in den Straßen, bezog Stellung vor Wahllokalen und staatlichen Einrichtungen und riegelte den zentralen Tahrir Platz sowie traditionelle Versammlungsorte der Muslimbrüder wie den Platz vor der Rabaa Al-Adawija Moschee in Nasr City in Ost-Kairo, wo Polizei und Militär im August ein Protestcamp der Bruderschaft gewaltsam geräumt hatten, hermetisch ab. Dennoch gab es während der Wahl im ganzen Land Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, mindestens 13 Protestierende starben.
Ägyptens Sicherheitsapparat nutzte derweil die Proteste für eine Internierungswelle. In der Provinz Sharqiya im Nildelta wurden 14 Menschen unter dem Vorwurf verhaftet, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein sowie „Bürger terrorisiert und davonabgehalten zu haben, an der Wahl teilzunehmen“.Während der zweitägigen Abstimmung sollen insgesamt 444 Mitglieder der Bruderschaft verhaftet worden sein.
Auch nach Ende des Urnengangs blieb die Situation am Nil angespannt. Am 17. Januar, dem ersten Freitag nach dem Urnengang, fanden erneut im ganzen Land Protestzüge gegen Regierung, Militär und Verfassung statt. Die staatlich kontrollierte Zeitung Al-Ahram berichtet von sechs Toten in Kairo und dem südlich der Hauptstadt gelegenen Fayum, einer Hochburg der Bruderschaft. Landesweit sollen weitere 125Mitglieder der Organisation verhaftet worden sein. Die seit Wochen anhaltenden Proteste an mehreren Universitäten setzten sich fort. Im Oktober hatten sich Proteste der Bruderschaft von den Straßen an die Universitäten verlagert. Zuletzt hatten die regelmäßigen Protestmärsche der Bruderschaft deutlich mehr Zulauf erhalten.
Unterdessen wurde im Nord-Sinai eine Erdgas-Pipeline in die Luft gesprengt. Die radikale Islamistengruppe Ansar Beit Al-Maqdis hatte sich zu dem Anschlag bekannt. Seit der ägyptischen Revolution war eine andere Leitung, die Erdgas nach Israel und Jordanien transportiert, rund ein Dutzend Mal Ziel von Anschlägen. Der im Juli 2013 zum militärischen Sperrgebiet erklärte Norden des Sinai ist seit Mursis Sturz Schauplatz einer großangelegten Militäroffensive gegen Ansar Beit Al-Maqdis, die sich sich zu mehreren Attentaten im Sinai und im Nildelta, wie dem Bombenanschlag in Mansoura am 24. Dezember 2013 mit 16 Toten, bekannt hatte und ist neben der palästinensischen in Gazaregierenden Hamas erklärtes Ziel der Offensive. Der Norden der wirtschaftlich und politisch vernachlässigten Provinz ist zu einem Eldorado für kriminelle Banden und militante bewaffnete Gruppen geworden. Neben Drogen- und Waffenschmugglern operieren hier seit Jahren weitgehend ungestört Menschenhändler und nutzen das sicherheitspolitische Machtvakuum für Erpressungsgeschäfte mitFlüchtlingen aus Ostafrika. Die Region gilt als unkontrollierbares Niemandsland.
Staatliches Vorgehen gegen Verfassungsgegner
Neben der sicherheitspolitisch angespannten Lage wurde eine demokratische Abstimmung zudem durch die aufgeheizte politische Stimmung im Land erschwert. Übergangsregierung, Militärführung und das Gros der liberalen und staatssozialistischen nasseristischen Parteien unterstützen den politischen Übergangsprozess und hatten im Vorfeld des Urnengangs eine aggressive Medienkampagne zugunsten der neuen Verfassung lanciert, die im ganzen Land mit unzähligen Plakaten, Fernseh- und Radiospots sowie Werbenachrichten auf Mobiltelefone Ägyptens Bevölkerung zur Teilnahme am Wahlgang und Zustimmung für die neue Verfassung aufgerufen hatte. Kampagnen, die für eine Ablehnung des Dokumentes warben, wurden unterbunden. Eine Woche vor dem Urnengang wurden mindestens sieben Mitglieder der vom Muslimbrüder-Abweichler Abdel Monim Aboul Foutouh geführten Strong Egypt Party verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen geplant zu haben, das Referendum mit Gewalt zu stören, Wahlberechtigte daran zu hindern an der Wahl teilzunehmen und die Regierung zu stürzen. Die vorläufig Internierten hatten in Kairo Plakate aufgehängt, die aufriefen gegen die Verfassung zu stimmen. Die Menschenrechtsgruppe Human RightsWatch (HRW) verurteilte das Vorgehen gegen die Aktivisten scharf. Die Berliner Menschenrechtsorganisation Transparency International, die als eine der wenigen ausländischen Organisationen Wahlbeobachter stellte, bezeichnete das Vorgehen ägyptischer Behörden gegen die Nein-Kampagne als „repressiv“ und kritisierte die einseitige Medienberichterstattung.
Das Referendum wurde von Staat und politischen Unterstützen des Verfassungsentwurfs zu einer Frage der nationalen Sicherheit aufgebauscht, ein „Nein“ bei der Abstimmung mit Landesverrat gleichgesetzt. „Letztes Jahr wurden diejenigen, die die Verfassung 2012 ablehnten, von Muslimbrüdern als Ungläubige betrachtet. Die die heute Nein sagen werden als Verräter beschimpft“, betont Ayman Montasser von der Strong Egypt Party in der ägyptischen Zeitung MadaMasr. An anderer Stelle kommentiert die unabhängige Zeitung die hohe Zustimmungsrate zur Verfassung. Die Verhaftungen von Aktivisten, die Kampagnen für ein „Nein“ zur Verfassung vorangetrieben haben, hätten bereits vor der Wahl Ängste bei der Wählerschaft hervorgerufen die Verfassung abzulehnen, schreibt das Blatt bereits vor Veröffentlichung der Ergebnisse. Derweil setzten sich Übergriffe gegen Journalisten auch während des Referendums fort. Ein Reporter des ägyptischen TV-Kanals MBC wurde mit der Begründung verhaftet, Plakate bei sich gehabt zu haben, die für ein „Nein“ beim Referendum warben. Auch ein Journalist des der Bruderschaft nahe stehenden TV-Senders Al Jazeera aus Katar wurde verhaftet. Regierung und Armee setzten damit ihr rigoroses Vorgehen gegen den Sender fort.
Breite politische Unterstützung für neue Verfassung
Die Annahme der Verfassung beim Urnengang Mitte Januar war gemeinhin erwartet worden. Vor der Wahl formierte sich eine breite Front aus Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, die zur Zustimmung zur neuen Verfassung aufriefen. Die Einbindung liberaler und nasseristischer Parteien in die verfassungsgebende Versammlung und die Übergangsregierung sicherte der Verfassung letztendlich die nötige breite politische Unterstützung. Zu den Befürwortern zählen wirtschaftsliberale Parteien wie die Free Egyptians, die Wafd, und die Conference Party. Auch die Sozialdemokraten und das staatssozialistisch-nasseristische Lager warben für den Text. Nasseristische Parteien verfolgen eine sozialistische, mit anti-imperialistischen und nationalistischen Fragmenten gepaarte Agenda, stehen hinter dem Militär und zielen auf den Gang durch die Institutionen. Verschiedene liberale und nasseristische Parteien hatten sich im Herbst 2012 zu einem Bündnis gegen die Muslimbruderschaft vereint, der National Salvation Front. Interimsregierung und verfassungsgebende Versammlung integrierten zahlreiche Köpfe aus dem Bündnis und sicherten sich somit breite politische Unterstützung für Verfassung.
Unterstützt wird die Verfassung auch vom staatlichen Gewerkschaftsbund EgyptianTrade Union Federation (ETUF), einem Relikt des alten Mubarak-Regimes. Die ETUF, die bis 2011 faktisch ein Monopol in der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung inne hatte, gilt als ausnehmend korrupt und von ehemaligen Getreuen Mubaraks durchsetzt und hatte in den vergangenen 15 Jahren jeden Streikaufruf konsequent abgelehnt. Die Gründung der Egyptian Federation of Independent Trade Unions (EFITU) im Februar 2011 unter Federführung des amtierenden Arbeitsministers Kamal Abu Eita brach das Monopol der ETUF im Gewerkschaftssektor und spielt seither bei Protesten und Arbeitskämpfen gegen die neoliberale Politik von Regierung und Militär eine wichtige Rolle. Die EFITU rief zur Beteiligung amReferendum auf, machte aber trotz der drohenden Einschränkung der Koalitionsfreiheit durch die neuen Verfassung keine Wahlempfehlung.
Ein weiterer zentraler Akteur, der für die Annahme der neuen Verfassung mobil machte, ist die Al-Nour Partei. Die größte salafistische Partei des Landes war ironischerweise der wichtigste Bündnispartner Mursis, hatte gemeinsam mit der FJP die Verfassung 2012 entworfen und ihr einen religiösen Stempel aufgedrückt. Bereits vor der Absetzung Mursis distanzierte sich die Al-Nour unter ihrem Vorsitzenden Younis Makhioun von der Bruderschaft und wechselte nach Mursis Sturz die Seiten. Sie ist heute die einzige islamistische Kraft, die die Übergangsregierung anerkennt. Die Partei stellte nach langwierigen internen Streitereien ein Mitglied in der verfassungsgebenden Versammlung und rief dazu auf die neue Verfassung zu unterstützen.
Ägyptens regimekritische Opposition demoralisiert
Unterdessen werden in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden drohende militärkritische politische Kräfte, die die umfassende Vormachtstellung von Ägyptens Streitkräften ebenso ablehnen wie die Herrschaft der Muslimbrüder, marginalisiert und mundtot gemacht. Im November 2013 weitete Ägyptens Sicherheitsapparat sein repressives Vorgehen gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft auch auf die säkulare linksliberale Opposition aus und geht seither hart gegen jede Aktivität revolutionärer Gruppen vor, die sich öffentlich kritisch über die Armee äußern. Die im November 2013 verhafteten und einen Monat später zu jahrelangen Haftstrafen verurteilten Aktivisten Ahmed Douma, Ahmed Maher und Mohamed Adel des liberalen 6thof April Movement waren erste Opfer des erst kürzlich in Kraftgetretenen neuen Protestgesetzes, das von Menschenrechtsorganisationen scharf verurteilt und als effektive Einschränkung des Versammlungsrechts bezeichnet wird. Auch Mitglieder der Revolutionary Socialists (RS) sind von dem rigiden Vorgehen des Staates gegen militärkritische linke Gruppen betroffen.
Derweil betrachten die RS die derzeitige politische Gemengelage in Ägypten als faktische Konterrevolution und institutionalisierte Restaurierung der alten sozioökonomischen und politischen Ordnung. Das Regime habe versucht, der Übergangsregierung und der verfassungsgebenden Versammlung durch die Einbindung revolutionärer Kräfte politische Legitimität zu verleihen, heißt es aus den Reihen der RS. Präsident Mansour ernannte im Juli 2013 den ehemaligen EFITU-Vorsitzenden Abu Eita, eine Galionsfigur der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, zum neuen Arbeitsminister und versuchte damit die Bewegung zu spalten und zu kooptieren. „Die neue Regierung brauchte einen revolutionären Anstrich. Revolutionäre Kräfte sind in der Interimsregierung die Minderheit, sie können nichts ausrichten. Es ist eine Koalition der Konterrevolution“, sagt ein führendes RS-Mitglied, das ob des staatlichen Vorgehens gegen die Gruppe anonym bleiben will.
Liberal, autoritär und unverbindlich – Ägyptens neue Verfassung
„Die Verfassung wird in keinster Weise die Forderungen der Revolution implementieren. Die herrschenden Klassen werden sich eine breitere demokratische Fassade geben. Die Verfassung bleibt meist gezielt vage und uneindeutig“, heißt es aus den Reihen der RS. Das Dokument manifestiere die Vormachtstellung der Armee, mache Polizeiapparat und Judikative immun gegen Reformen und drohe die Koalitionsfreiheit einzuschränken. Auf der anderen Seite stärkt die Verfassung Frauenrechte und zwingt den Staat, mehr Mittel für Gesundheits- und Bildungswesen aufzubringen. Auf Grundlage von Artikel 18 und 19 muss die Exekutive zukünftig drei bzw. vier Prozent des BIP für Gesundheit und Bildung ausgeben. Der Staat reduzierte zuvor im Zuge seiner neoliberalen Sozial- Wirtschaftspolitik nach und nach die Ausgaben für Gesundheit und Bildung. Vor allem die Muslimbrüder profitierten von dieser Entwicklung, bauten Schulen und boten kostenlose Gesundheitsdienstleistungen auf dem Land an; ein Fakt, der ihre Popularität abseits der Großstädte erklärt. Fraglich bleibe dennoch, ob der Staat gewillt sei sein Budget zu reformieren, heißt es bei den RS. Dr. Dalia Hussein, Mitglied der nasseristischen Egyptian Socialist Party und Juradozentin an der Universität in Zagazig, sieht die Verfassung als „Schritt nach vorne in Richtung sozialer Gerechtigkeit.“ Zwar gebe es Bedenken in der Partei, doch sei die Verfassung vor allem für Frauen wichtig. Artikel 6 garantiere das gleichberechtigte Staatsbürgerschaftsrecht und Artikel 11 verpflichte den Staat „die Gleichstellung von Frauen undMännern in allen bürgerlichen, sozialen, politischen,wirtschaftlichen und kulturellen Rechten (..) durchzusetzen.“
Andererseits schränkt die Verfassung die Koalitionsfreiheit ein. Artikel 77 sieht lediglich eine Gewerkschaft pro Berufsgruppe vor und würde bei strenger Auslegung das Gewerkschaftsmonopol der staatlichen ETUF mit Verfassungsrang ausstatten. Hussein meint, Artikel 77 stehe im Widerspruch zu Artikel 93, der Ägypten zwingt, ratifizierte internationale Verträge und Konventionen zu achten. Dazu zähle eben auch der UN-Pakt über bürgerliche und soziale Rechte, der die Koalitionsfreiheit festschreibt. Während Artikel 13 die Rechte der Arbeiterschaft schützt und Artikel 15 das Streikrecht in die Verfassung mitaufnimmt, verweist letzterer jedoch auf gültige Gesetze. Faktisch wird damit auf das im November 2013 in Kraft getretene Protestgesetz verwiesen, das „Übergriffe gegen dieallgemeine Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Produktion“ unter Strafe stellt und damit Streiks in eine rechtliche Grauzone verbannt. Da Sicherheitskräfte in Ägypten oft mit Gewalt gegen Streiks vorgehen, ist mit einer repressiven Auslegung des Artikels zu rechnen.
Der umstrittenste Abschnitt in der Verfassung betrifft die Armee, deren Sonderstellung bestätigt wird. Das Budget des Militärs unterliegt keiner legislativen Kontrolle, der Verteidigungsminister muss zwingend aus den Reihen der Streitkräfte kommen und die Wahl des Verteidigungsministers vom Generalstab abgenickt werden. Auch werden Militärtribunale für Zivilisten durch die Verfassung legitimiert. Militärtribunale für Zivilisten sind ein von Ägyptens Armee häufig genutztes Mittel, um Oppositionelle abseits der zivilen Gesetze verurteilen zu können. Artikel 204 tauchte erstmals in der von Muslimbrüdern und Salafisten entworfenen Verfassung von 2012 auf und wurde in der neuen Verfassung gar noch ausgeweitet. Artikel 207 sieht zudem die Einrichtung eines Obersten Polizeirates vor. Dem Rat wird die Befugnis gegeben, jedes Gesetz, das den Polizeiapparat betrifft, abzulehnen und verleiht dem Innenministerium faktisch das Recht, sich selbst zu reformieren.
Institutionalisierte Restaurierung des alten Regimes
Ägyptens neue Verfassung ist ein demokratisch legitimiertes Instrument zur Wiederherstellung der alten Ordnung. In der verfassungsgebenden Versammlung und der Interimsregierung finden sich zahlreiche alte Kader des gestürzten Mubarak-Regimes, die die breite gesellschaftliche Ablehnung gegen die Muslimbrüder in Kooperation mit dem allmächtigen Militärapparat geschickt genutzt haben, um sich zurück in die erste Reihe des politischen Geschehens zu drängen. Die in der Revolution 2011 erkämpften politischen Freiheiten erodieren derzeit rasch unter der restaurierten Militärherrschaft. Die jüngste Verhaftungswelle gegen linksliberale Aktivisten und die nationalistischen, armeehörigen Medienkampagnen lassen am Ausgang der anstehenden Präsidentschaftswahl wenig Zweifel. Der von der Armee unterstützte Kandidat wird gewinnen. Verteidigungsminister El-Sisi kündigte seine Kandidatur bisher nicht offiziell an, doch angesichts lautstarker Rufe aus zahlreichen politischen Lagern und seiner Popularität in der Bevölkerung scheint seine Kandidatur und seine Wahl zum Staatspräsidenten nur noch Formsache zu sein. Das Ergebnis des Referendums wird am Nil gemeinhin als Unterstützung für El-Sisi interpretiert. HamdeenSabahi, der bei der Präsidentschaftswahl 2012 überraschend Dritter wurde, kündigte an, gegen Sisi antreten zu wollen. Chancen werden ihm kaum eingeräumt. Das Militär hat mit der zur Terrorvereinigung erklärten Bruderschaft und den im Sinai aktiven Islamisten willkommene Argumente parat, ihre Vormachtstellung zu legitimieren und Rufe nach politischen Freiheiten, sozialer Gerechtigkeit und Reform von Staatsinstitutionen abzuschmettern. Auch außenpolitisch ist der Status quo restauriert. Kurz nach Ende des Referendums hat der US-Kongress die im Sommer 2013 eingefrorene Militärhilfe von jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar wieder freigegeben. Die Militärs und die aus der Asche der Revolution 2011 auferstandenen alten Mubarak nahe stehenden Kader haben Rückenwind und sind gewillt die alte sozioökonomische und politische Ordnung möglichst zügig zu restaurieren.
© Sofian Philip Naceur 2014