Urnengänge gehören seit der ägyptischen Revolution 2011 langsam aber sicher zum Alltag am Nil. Nach der Absetzung von Staatspräsident Mohamed Mursi durch die Armeeführung unter Verteidigungsminister Abdelfattah El-Sisi am 3. Juli 2013 stehen in den nächsten Monaten erneut Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bevor. Doch zunächst sind heute und morgen rund 53 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen am Referendum über die neue Verfassung teilzunehmen. Es ist das zweite Verfassungsreferendum in nur 13 Monaten, nachdem Ägyptens Bevölkerung bereits im Dezember 2012 an die Urnen gerufen wurde, um über eine neue Verfassung zu entscheiden. Die im Alleingang vom inzwischen verbotenen politischen Arm der Muslimbrüder, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), und der salafistischen Partei Das Licht entworfene umstrittene Verfassung von 2012 war nach Mursis Sturz vom Übergangsregime außer Kraft gesetzt worden (erschienen in Junge Welt am 14.1.2014).
Das Referendum findet in einer vakanten sicherheitspolitischen Gemengelage statt. Ägypten erlebte in den vergangenen Monaten eine Welle an Bombenanschlägen gegen Armee- und Polizeieinrichtungen. Höhepunkt war die Autobombe vor dem Sicherheitsdirektorat in Mansoura im Nildelta mit 16 Toten. Im Nord-Sinai führt die Armee weiterhin eine Offensive gegen militante Islamisten, die ihren Aktionsradius inzwischen auf Zentralägypten ausgeweitet haben. Die Anhänger der gestürzten Muslimbrüder demonstrieren unterdessen weiter gegen die Absetzung Mursis. Zuletzt hatten ihre Proteste wieder deutlich mehr Zulauf erhalten. Vor allem Freitags, dem zentralen Tag für Demonstrationen am Nil, intensivierten sich gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei. Auch an der theologischen Hochschule Al Azhar im Osten der Hauptstadt Kairo finden seit Monaten Ausschreitungen zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei statt. Erst am Sonntag hatten Sondereinheiten der Polizei den Campus gestürmt und die Proteste auseinander getrieben.
Die Bruderschaft lehnt weiterhin jedwede exekutive Autorität, die seit Mursis Sturz das Land regiert, vehement ab und boykottiert das Referendum. Trotz der landesweiten Hetzkampagne gegen sie und der Einstufung der Bruderschaft als „terroristische Vereinigung“ durch die Interimsregierung Ende Dezember glaubt Mostafa Ali nicht, dass die Organisation wieder in den Gang in den Untergrund antritt. Sie habe zu viel zu verlieren, meint der Redakteur der englischsprachigen Internetseite der ägyptischen staatlich kontrollierten Tageszeitung Al-Ahram. „Aber das Referendum wird blutig werden“, sagt Ali. In der Tat ist die Stimmung am Nil bedrückend vor dem Urnengang. Viele Menschen rechnen im besten Fall mit Störmanövern der Mursi-Anhängerschaft oder im schlimmsten Fall mit Anschlägen auf Wahllokale. Armeeführung und Innenministerium kündigten an 160000 Soldaten und weitere 100000 Polizisten zum Schutz der Wahllokale abzustellen.
Wir haben an die Muslimbrüder als politische Kraft geglaubt. Aber sie haben versagt“, sagt der Mitbegründer der Partei der Freien Ägypter Abdulbar Zahran. Er ruft die Bruderschaft eindringlich dazu auf sich ein Beispiel an der liberalen Wafd Partei zu nehmen, die 1952 im Zuge des Putsches der Freien Offiziere gestürzt und verboten wurde. „Die Wafd hat 1952 die Macht verloren. Doch sie hat sich nicht radikalisiert oder terroristischen Gruppen angeschlossen und die Straßen in Brand gesetzt wie die Muslimbrüder heute. Sie hat sich damals zurückgezogen und abgewartet. Daran müssen sich die Muslimbrüder als politische Kraft ein Beispiel nehmen. Ich flehe ihre Anführer an über dieses Beispiel nachzudenken.“
Während das Gros der liberalen und staatssozialistischen Parteien die neue Verfassung unterstützt und für Zustimmung werben, lehnen neben der Parteienallianz rund um die Muslimbrüder nur unabhängige Gewerkschaften und linksliberale Organisationen wie die Revolutionären Sozialisten (RS) oder die Bewegung des 6. April den Text ab. Der Einfluss des Militärs auf Ägyptens Politik werde bewahrt, die Koalitionsfreiheit beschnitten und Militärtribunale für Zivilisten zum Verfassungsrang erhoben. Die islamistische Färbung der 2012er Verfassung sei zwar reduziert und dafür Frauenrechten gestärkt worden, doch sei das Dokument ein Vehikel die Rückkehr von Militärstaat und altem Regime zu legitimieren, heißt es aus Kreisen der RS. Die salafistische Partei Das Licht, die die Verfassung von 2012 noch mit der FJP gemeinsam entwarf und durch die Institutionen peitschte, wirbt ironischerweise für den neue Text. Sie hofft aus dem Verbot der Muslimbruderschaft politisches Kapital schlagen zu können und bei kommenden Urnengängen Stimmen aus dem Lager der Bruderschaft abschöpfen zu können. Doch wie und von wem ist die neue Verfassung überhaupt entworfen worden?
Im August 2013 beauftragte Interimspräsident Adli Mansour ein zehnköpfiges Expertenkomitee mit der Überarbeitung der damals erst acht Monate alten Verfassung. Das von Mansour ernannte Gremium legte einen Monat später eine erste überarbeitete Fassung des Textes vor und gab diesen vorläufigen Entwurf an ein zweites Komitee weiter, die 50köpfige verfassungsgebende Versammlung. Zum Vorsitzenden ernannt wurde Amr Moussa, ägyptischer Karrierediplomat, lange Jahre lang Außenminister unter Staatspräsident Hosni Mubarak und von 2001 bis 2011 Vorsitzender der Arabischen Liga.
Auch die in Ägypten meist „Komitee der 50“ genannte verfassungsgebende Versammlung war wie das Expertenkomitee keineswegs demokratisch legitimiert, sondern wurde von Präsident Mansour ernannt. Die hinter verschlossenen Türen die Fäden ziehenden Militärs dürften bei der Vergabe der Posten jedoch ein Wörtchen mitgeredet haben. Mansour gab sich bei der Besetzung der Versammlung alle Mühe das Demokratiedefizit beim Einberufungsprozess der Versammlung mit breiter Repräsentanz wett zu machen. Neben Vertretern der koptischen und katholischen Kirche, Gewerkschaften, Frauenverbänden, der revolutionären Jugend, der Armee, Industrieverbänden und zahlreiche Parteienvertreter aus dem liberalen Lager wurden auch Arbeiter und einige Berufsverbände bedacht. Nach Bekanntgabe der Besetzung betonten Regierungsvertreter immer wieder man habe mit der Sitzvergabe an möglichst viele gesellschaftlich relevante Kräfte ein Höchstmaß an Repräsentanz erreicht. Dennoch riss die Kritik an den Besetzungsformalitäten nicht ab. So wurden zum Beispiel nur die staatlich kontrollierten Gewerkschaften berücksichtigt, nicht aber unabhängige Arbeitnehmerverbände. Das linke politische Spektrum wurde nur von einem Vertreter der regierungstreuen Tagammu-Partei bedient und die Islamisten, die bei Wahlgängen seit 2011 stets hohe Stimmenanteile eingefahren hatten, mit nur zwei Posten bedacht. Einer ging an die Salafisten, der andere an ein Ex-Mitglied der Muslimbruderschaft. Die Bruderschaft selbst ging leer aus und boykottierte die Versammlung. Das regimenahe wirtschaftsliberale Lager war hingegen deutlich überrepräsentiert.
Im Dezember stellte das „Komitee der 50“ den fertig gestellten Entwurf vor. Das 247 Artikel zählende Dokument dürfte mit deutlicher Mehrheit angenommen werden. Zwar war die Wahlbeteiligung bei der schon letzte Woche gestarteten Abstimmung der im Ausland lebenden Wahlberechtigten niedrig, doch lag die Zustimmungsrate bei durchschnittlich 95 Prozent. Schon seit Fertigstellung des Entwurfes laufen am Nil Kampagnen, die die Menschen auffordern der Verfassung ihren Segen zu geben. Plakate in der Innenstadt von Kairo, TV-Werbespots und virale Marketingkampagnen im Internet und auf Mobiltelefonen werben für die Verfassung. TV-Spots zeigen Bilder der Massenproteste gegen Mursi am 30. Juni 2012. Ägyptens Streitkräfte haben gar ein Lied komponieren lassen und rufen damit zur Teilnahme am Referendum auf.
Ägypten schwimmt derweil weiterhin auf einer Welle des Nationalismus und das Referendum wird von Interimsregime und Armee zu einer Frage der nationalen Sicherheit aufgebauscht. Das Regime polarisiert gezielt und setzt ein Nein zur Verfassung mit Landesverrat gleich. „Letztes Jahr wurden diejenigen, die die Verfassung ablehnten, von der Bruderschaft als „Ungläubige“ betrachtet. Die die heute Nein sagen werden als „Verräter“ beschimpft“, sagt Ayman Montasser von der Partei Starkes Ägypten in der ägyptischen Zeitung Mada Masr. Auch seine vom Muslimbrüder-Abweichler Abdel Monim Aboul Foutouh geführte Partei lehnt das Dokument ab. Vier ihrer Mitglieder waren erst vergangene Woche vorläufig verhaftet worden, da sie in der Innenstadt Kairos Plakate aufgehängt hatten, die aufriefen mit „Nein“ abzustimmen.
Die zur Abstimmung vorliegende Verfassung ist kein neu formuliertes Dokument, sondern lediglich eine Neufassung des 2012 von Muslimbrüdern und Salafisten entworfenen Textes. Während der höchst umstrittene Scharia-Artikel 219 der Verfassung von 2012, von vielen Seiten als Einfallstor für eine Islamisierung der Gesetzgebung kritisiert, entfernt wurde, bestätigte die verfassungsgebende Versammlung den Artikel zu Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten und weitete ihn sogar noch aus. Militärtribunale für Zivilisten wurde von den Islamisten 2012 erstmals mit Verfassungsrang gekrönt und sind am Nil ein oft genutztes Mittel der Streitkräfte, um Oppositionelle abseits der zivilen Gesetzgebung zu verurteilen. Die Armee sichert sich auch in der neuen Verfassung politischen Einfluss und schirmt ihr Budget gegen Ägyptens Exekutive ab. Der Verteidigungsminister muss zwingend aus den Reihen der Armee kommen und von dieser abgenickt werden.
Dr. Dalia Hussein, Mitglied der Ägyptischen Sozialistischen Partei und Jura-Dozentin an der Universität von Zagazig, meint die neue Verfassung sei ein Schritt in die richtige Richtung. Vor allem Frauenrechte würden gestärkt. Artikel 11 schreibt die politische, wirtschaftliche und soziale Gleichstellung von Frauen und Männern fest. „Die Verfassung nimmt den Staat in die Pflicht die Rechte von Frauen sicherzustellen“, so Hussein. Kritik äußert sie an Artikel 77, der die Koalitionsfreiheit dahingehend einschränkt, das nur eine Gewerkschaft pro Berufsgruppe erlaubt ist.
Ägypten habe jedoch UN-Verträge ratifiziert, die die Koalitionsfreiheit schützen. Während Artikel 13 dem Staat auferlegt Arbeitnehmerrechte zu schützen und Artikel 15 Streiks explizit erlaubt, bleiben die Artikel vage und verweisen auf gültige Gesetze. Im November hatte die Regierung ein Protestgesetz verabschiedet, dass die Einschränkung der „Produktion“ unter Strafe stellt. Dieses Beispiel verdeutlicht die Kritik an der neuen Verfassung ein sich widersprechendes und vage formuliertes Dokument zu sein, das Artikel zu Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit beinhaltet, aber nicht konkretisiert wie dies erreicht werden soll.
© Sofian Philip Naceur 2014