Nur rund zehn Tage vor dem geplanten Verfassungsreferendum versinkt Ägypten erneut in Gewalt. Am Freitag starben bei landesweiten Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern der Muslimbruderschaft nach offiziellen Angaben 18 Menschen, rund 260 Demonstranten wurden verhaftet. Die verbotene und im Dezember von der Regierung als Terrororganisation eingestufte Bruderschaft hatte erneut zu einer „Woche des Zorns“ aufgerufen und damit ihrem Boykott des Verfassungsreferendums Nachdruck verliehen. Ägyptens Armee hatte nach dem Demonstrationsaufruf der Organisation ihre Präsenz auf den Straßen erhöht. Am Tahrir-Platz in Kairo, rund um die Universität von Kairo und an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten der Stadt, wo die Muslimbrüder nach der Absetzung Mohamed Mursis im Juli wochenlang gegen seine Entmachtung protestiert hatte, wurden Sicherheitsvorkehrungen massiv erhöht (erschienen in Junge Welt am 6.1.2014).
In Nasr City gingen Sicherheitskräfte rasch gegen Demonstrationen vor und zerstreuten die Proteste, die sich in anderen Vierteln im Großraum Kairo bis in die Abendstunden fortsetzten. Bei den schwersten Zusammenstößen am Nil seit rund zwei Monaten wurden allein in Kairo und Giza fünf Menschen getötet. Auch bei den teils heftigen Zusammenstößen in der Hafenstadt Alexandria, Minya, Ismailia, und Fayoum, einer Hochburg der Bruderschaft südlich von Kairo, starben Demonstranten. Im Gegensatz zu den regelmäßigen Protesten der Mursi Anhängerschaft in den vergangenen Monaten wurden diesmal deutlich sichtbar Waffen bei den Protesten mitgeführt. Bei den Protesten in Port Said wurden nach amtlichen Angaben elf Demonstranten verhaftet und vor Militärgerichte gestellt. Am Samstag flammten rund um den Campus der Al-Azhar-Universität in Nasr City erneut Unruhen auf. Die Hochschule ist bereits seit Wochen Schauplatz von Protesten der Mursi-Anhänger, die sich auch am Wochenende Straßenschlachten mit Sicherheitskräften lieferten. Mit Tränengas und Schlagstöcken gingen Sicherheitskräfte auch auf dem Campus gegen Demonstranten vor.
Auch setzte sich die Serie an Bombenanschlägen fort. Am Freitag detonierte nahe der Stadt Al-Arish im Nord-Sinai ein Sprengsatz, tötete einen Soldaten und verletzte vier. Insbesondere die Sinai-Halbinsel ist seit Monaten Schauplatz von anhaltenden Spannungen und Gewalt. Ägyptens Armee hatte erst im Sommer ihre Offensive gegen dort operierende militante Islamisten intensiviert. Seither gehören Anschläge auf Sicherheitskräfte im Norden der an der Grenze zu Israel liegenden Provinz zur Normalität. Die bewaffnete im Sinai operierende militante Islamistengruppe Ansar Beit Al-Makdis hatte erst vor wenigen Tagen die Verantwortung für den blutigen Autobombenanschlag in Mansoura vom 24. Dezember übernommen. Der Gruppe werden seitens der Regierung enge Verbindungen zur Muslimbruderschaft nachgesagt, doch hat die Regierung der Öffentlichkeit bisher keinerlei schlüssige Beweise für diese Anschuldigungen vorgelegt.
Unterdessen steht das Verfassungsreferendum vor der Tür, das am 14. und 15. Januar statt finden soll. Angesichts der Boykottaufrufe der Muslimbrüder und der jüngsten Gewaltwelle rechnen Beobachter mit unruhigen Tagen vor und nach der Abstimmung. Erst im Dezember 2012 hatten die damals noch regierenden Muslimbrüder unter Präsident Mursi eine neue Verfassung durch die Institutionen gepeitscht. Im Zuge seiner Absetzung im Juli wurde das umstrittene islamistisch gefärbte Dokument außer Kraft gesetzt. Eine neue verfassungsgebende Versammlung hatte im Herbst die Verfassung von 2012 komplett überarbeitet. Der nun zur Abstimmung vorliegende Entwurf wird von den meisten politischen Kräften im Land unterstützt, auch wenn der Text Militärtribunale für Zivilisten erlaubt, die Koalitionsfreiheit einschränkt und die politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Streitkräfte unangetastet lässt. Mit Ausnahme der Muslimbrüder stellen sich lediglich linke, liberale und gewerkschaftsnahe Kreise gegen den Entwurf, der ihrer Auffassung nach die wichtigsten Forderungen der Revolution von 2011 „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ nicht berücksichtigt.
© Sofian Philip Naceur 2014